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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Alkohol ihm nichts mehr anhaben
     konnte; aber Opium verschaffte ihm ein viel wirksameres und wohltuenderes Vergessen. Nicht umsonst hatten es schon die alten
     Griechen gegen verschiedenste Leiden einzusetzen gewusst. So |98| gewöhnte Andrew sich an, seine Tage in den Rauchsalons der Opiumhäuser zu verbringen, wo er, auf einer der durch exotische
     Vorhänge getrennten Matratzen liegend, an der Pfeife sog. In diesen Höhlen trug Andrew seinen Schmerz in die Labyrinthe eines
     endlosen Rauchnebeltraums, in dem ein dürrer Malaie von Zeit zu Zeit den Pfeifenkopf auffüllte, bis Harold oder Cousin Charles
     den Vorhang aufzog und ihn dort herausholte. Wenn Coleridge Opium nahm, um seine lächerlichen Kariesqualen zu mildern, dann
     konnte er es doch wohl nehmen, um den schrecklichen Schmerz seines Herzens zu lindern, antwortete er Charles, als dieser ihn
     vor den Gefahren der Sucht warnte. Sein Cousin hatte natürlich recht, und wenn Andrew, als sein Schmerz ein wenig nachließ,
     die Rauchsalons auch seltener frequentierte, so konnte er das Leben eine Zeitlang nur mit einem Vorrat von Laudanumampullen
     in den Taschen überstehen.
    Das ging zwei oder drei Jahre so, bis der Schmerz schließlich verschwand und etwas viel Schlimmeres an seine Stelle trat:
     Leere, Lethargie, Empfindungslosigkeit. Was damals geschehen war, hatte ihn jetzt endgültig geschafft, hatte seinen Lebenswillen
     zerbrochen, sein ureigenes Verhalten, mit dem er auf die Wirklichkeit reagiert hatte, zerstört, ihn blind und taub in einem
     Winkel des Universums abgestellt, wo nichts mehr passierte. Er war nur noch ein Automat, ein dumpfes Geschöpf, das aus reiner
     Trägheit lebte; denn das Leben, das wirkliche Leben, war nicht das, womit er seine Tage zubrachte, sondern das, was sich,
     ob er wollte oder nicht, wie ein stilles Wunder in seinem Inneren hielt. Am Ende war er eine unerlöste Seele, die sich tagsüber
     in ihrem Zimmer einschloss und nachts wie ein Geist durch den |99| Hyde Park strich, den die Angelegenheiten der Lebenden nicht mehr interessierten, der selbst im Erblühen einer Blume nicht
     mehr als einen unbedachten willkürlichen Akt sehen konnte. Zu dieser Zeit hatte sein Cousin eine der Keller-Schwestern geheiratet
     – Andrew wusste nicht mehr, ob Victoria oder Madelaine – und ein vornehmes Haus in der Elystan Street erworben. Trotzdem besuchte
     er ihn fast täglich und nahm ihn oft genug mit in sein Lieblingsbordell, immer in der Hoffnung, ein neues Mädchen dort möge
     in ihrem Schoß das nötige Feuer haben, um Andrews erloschene Lebensgeister wieder aufflammen zu lassen. Doch alles war vergebens,
     nichts half, um Andrew aus dem schwarzen Loch heraufzuholen, in das er sich verkrochen hatte. In den Augen seines Cousins
     las Charles, dessen Perspektive ich jetzt kurz einnehmen werde, wenn Sie mir diesen unverhohlenen Tanz der Blickwinkel um
     der dramatischen Wirkung willen gestatten. Schließlich und endlich brauchte die Welt auch Märtyrer, deren Leben von der Grausamkeit
     des Schöpfers kündete. Möglicherweise hatte sein Cousin gelernt, das ihm Zugestoßene als Gelegenheit zur Gewissenserforschung
     zu ergreifen, die ihn in die unwegsamsten und finstersten Regionen seiner Seele führte. Wie viele Menschen gehen durchs Leben,
     ohne das Leiden in seinem Reinzustand kennenzulernen? Andrew hatte das vollkommene Glück und die grausamste Agonie erlebt,
     hatte seine Seele sozusagen abgeschrieben, sie bis zur äußersten Neige ausgebeutet. Und jetzt, sich gemütlich auf seinem Schmerz
     ausruhend, wie ein Fakir auf seinem Nagelbett, schien er Gott weiß was zu erwarten; vielleicht den Applaus, der ihm anzeigte,
     dass die Vorstellung zu Ende war. Charles hegte keinerlei Zweifel, |100| dass sein Cousin nur deshalb noch am Leben war, weil er es für seine Pflicht hielt, das ihm aufgebürdete Leid zu ertragen,
     um entweder eine empirische Untersuchung des Schmerzes durchführen oder seine Schuld sühnen zu können. Wenn er glaubte, dies
     erreicht zu haben, würde er mit einer tiefen Verbeugung von der Bühne abtreten. Aus diesem Grund atmete Charles jedes Mal
     erleichtert auf, wenn er Harrington Mansion betrat und Andrew kraftlos daniederliegend, aber immer noch unter den Lebenden
     weilend vorfand. Wenn er dann mit leeren Händen und in dem Gefühl heimging, alles, was er für seinen Cousin tat, sei vergebens,
     grübelte er fasziniert über das Geheimnis des Lebens nach, dessen Verlauf so anfällig und

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