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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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willkürlich war, dass schon der
     Kauf eines Bildes ihn verändern konnte. Ob er die Richtung noch einmal ändern könnte? Könnte er dem Leben seines Cousins einen
     neuen Kurs geben, bevor es zu spät war? Er wusste es nicht. Eines aber wusste er mit Sicherheit: Kein anderer würde es tun,
     wenn er es nicht versuchte.
    Im Zimmerchen in der Dorset Street faltete Andrew die Zeitungsseite auseinander und las zum letzten Mal die Litanei der Verstümmelungen
     an Marie Kellys Körper. Danach faltete er sie wieder zusammen und steckte sie in die Manteltasche. Sein Blick ruhte auf dem
     Bett, das nicht die geringste Spur von dem mehr zeigte, was vor acht Jahren geschehen war. Das war aber auch das Einzige,
     was anders war; alles Übrige war genau so geblieben: der angelaufene Spiegel, in dem das Verbrechen verewigt war, Maries Parfümfläschchen,
     die Kommode mit ihren Kleidern, sogar die Asche im Kamin gehörte noch zu dem Feuer, das der Ripper entfacht hatte, um es beim
     Zerstückeln schön |101| warm zu haben. Einen besseren Platz, sich das Leben zu nehmen, konnte er sich nicht vorstellen. Er hielt sich die Mündung
     unter das Kinn und legte den Finger um den Abzug. Noch einmal würde Blut auf diese Wände spritzen, und auf dem fernen Mond
     würde seine Seele endlich den Platz einnehmen, der in Marie Kellys Bett für ihn frei gehalten war.

|102| VI
    Mit der Revolvermündung am Kinn und dem Finger am Abzug dachte Andrew, wie komisch es doch war, bis an diesen Punkt gekommen
     zu sein, entschlossen, sich das Leben zu nehmen, derweil er den größten Teil seines Daseins damit verbracht hatte, dasselbe
     zu tun wie alle andern: den Tod fürchten, ihn in jeder Krankheit lauern sehen und stets in der Nähe wähnen, den perfiden Herrscher
     einer Welt voller Abgründe und Grate, vereister Straßen und tückischer Pferde, der sich über die lächerliche Verwundbarkeit
     jener amüsierte, die sich selbst die Krone der Schöpfung nannten. All die Angst, um sich freiwillig in seine Arme zu begeben,
     dachte er. Aber so war es nun mal. Wenn einem das Leben nur noch wie eine nutzlose Übung vorkam, die keinen Lohn versprach,
     war man bereit, es hinzugeben. Und das erreichte man nur auf eine Art. Die vage Furcht, die er davor empfand, war allerdings
     in keiner Weise metaphysisch. Das Sterben an sich erschreckte ihn nicht im Geringsten, denn die Angst vor dem Tod, sei dieser
     eine Brücke zu einem wie auch immer gearteten biblischen Ort oder nur ein arglistig gelegtes Brett über dem Nichts, entstammt
     immer der Gewissheit, dass das Universum nicht mit uns stirbt, sondern weiterexistiert, wie der Hund, nachdem ihm die Zecke
     aus dem Fell gezogen worden |103| ist. Grob gesagt, bedeutete das Betätigen des Abzugs nichts anderes, als aus dem Spiel auszusteigen und jede Hoffnung fahrenzulassen,
     bei der nächsten Runde bessere Karten zu bekommen. Daran glaubte Andrew nicht mehr. Er hatte seinen Glauben verloren. Er glaubte
     nicht, dass das Schicksal eine Belohnung bereithielt, die ihn für sein Leiden entschädigte; vor allem deswegen nicht, weil
     er sicher war, dass es eine solche Belohnung nicht gab. Seine Angst war ganz und gar weltlicher Art; nämlich davor, welchen
     Schmerz ihm die Kugel zufügen würde, wenn sie seinen Kiefer durchschlug. Das würde zweifellos sehr unangenehm werden, keine
     Frage, aber es war Bestandteil des Plans, und so musste er es akzeptieren. Er fühlte seinen Finger sich um den Abzug krümmen
     und biss die Zähne zusammen, endgültig bereit, seinem jämmerlichen Leben ein Ende zu setzen.
    In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Andrew riss überrascht die Augen auf. Wer konnte das sein? Mr.   McCarthy, der ihn hereinkommen sehen hatte und ihn um Geld angehen wollte, um das zerbrochene Fenster zu reparieren? Das Klopfen
     wurde lauter. Verdammter Halsabschneider! Wenn er es wagen sollte, durch das Loch im Fenster einen Blick ins Zimmer zu werfen,
     würde er auf ihn schießen. Wer sollte ihn hindern, das lächerliche Verbot, auf seinen Nächsten zu schießen, zu missachten,
     vor allem, wenn es sich bei diesem Nächsten um Mr.   McCarthy handelte!
    «Andrew, ich weiß, dass du dadrinnen bist. Mach auf!»
    Andrew zog eine ärgerliche Grimasse, als er die Stimme seines Cousins Charles erkannte. Charles, immer wieder Charles, der
     ihm überallhin folgte, ihn nie aus den Augen |104| ließ. Mr.   McCarthy wäre ihm lieber gewesen. Auf Charles konnte er nicht schießen. Wie hatte sein

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