Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
das drucken lassen?»
    Charles schüttelte den Kopf.
    «Kein Scherz, mein Lieber. Die Firma ZEITREISEN MURRAY gibt es wirklich. Sie hat ihren Sitz in der Greek Street, in Soho.
     Und sie bietet tatsächlich Zeitreisen an.»
    «Aber   … kann man denn durch die Zeit reisen?», stammelte Andrew ungläubig.
    «Ich versichere dir, man kann», sagte Charles ohne jeden Unterton von Spott. «Ich habe es getan.»
    Sie schauten sich sekundenlang wortlos an.
    «Ich glaube dir nicht», sagte Andrew schließlich und suchte in der ernsten Miene seines Cousins irgendeinen winzigen Hinweis,
     der ihn verriet. Doch Charles zuckte nur mit den Schultern.
    «Ich belüge dich nicht», versicherte er. «Madelaine und ich sind vorige Woche ins Jahr 2000 gereist.»
    Andrew brach in Gelächter aus, doch die Ernsthaftigkeit seines Cousins ließ sein Lachen langsam ersterben.
    «Ganz im Ernst, ja?»
    «Absolut», antwortete Charles. «Andererseits ist es auch nicht die Welt. Das Jahr 2000 ist eine schmutzige und kalte Zeit,
     in der der Mensch im Krieg mit den Maschinen lebt. |108| Aber wenn du es nicht siehst, ist es so, als hättest du die Oper verpasst, von der alle reden.»
    Andrew kam aus dem Staunen nicht heraus.
    «Noch ist es eine einzigartige Erfahrung», fuhr sein Cousin fort. «Madelaine hat sie ihren Freundinnen empfohlen. Ihr hatten
     es die Stiefel der Menschensoldaten angetan. Sie wollte mir unbedingt aus Paris welche mitbringen, hat dort aber keine gefunden.
     Etwas zu früh noch, fürchte ich.»
    Andrew las noch einmal das Flugblatt durch und vergewisserte sich, dass es immer noch dasselbe versprach.
    «Ich kann es immer noch nicht glauben», murmelte er.
    «Ich verstehe dich, mein Lieber, ich verstehe dich. Aber während du wie ein Geist durch den Hyde Park gewandert bist, ist
     der Lauf der Welt weitergegangen, weißt du? Die Zeit vergeht, auch wenn du nicht hinsiehst. Und glaube mir, so unwahrscheinlich
     es dir auch vorkommen mag, während des ganzen letzten Jahres gab es in den Salons kein anderes Thema als die Zeitreisen. Sie
     wurden der Gesprächsstoff schlechthin, seit im vergangenen Frühjahr der Roman erschienen ist, der das Thema überhaupt erst
     aufgebracht hat.»
    «Ein Roman?», fragte Andrew, der gar nichts mehr verstand.
    «Genau.
Die Zeitmaschine
von H.   G.   Wells. Es ist eines der Bücher, die ich dir geliehen habe. Hast du es nicht gelesen?»
    Seit Andrew sich geweigert hatte, ihn auf den Touren durch Kaschemmen und Bordelle zu begleiten, in denen Charles ihn für
     das Leben zurückzugewinnen suchte, und das Haus nicht mehr verlassen hatte, war sein Cousin dazu |109| übergegangen, ihm bei seinen Besuchen Bücher mitzubringen. In der Regel waren dies Neuerscheinungen unbekannter Autoren, die
     sich an der überbordenden Wissenschaftlichkeit des Jahrhunderts inspirierten und über Maschinen schrieben, mit denen man die
     unwahrscheinlichsten Abenteuer bestand. Sie nannten sich «Wissenschaftsromane», womit die englischen Verleger die «außergewöhnlichen
     Reisen» von Jules Verne auf einen Begriff brachten, der sich erstaunlich schnell durchsetzte und eine phantastische Literatur
     bezeichnete, die vorgab, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beruhen. Seinem Cousin zufolge atmeten die Wissenschaftsromane
     den Geist der Werke von Bergerac und Samosata und hatten die Nachfolge der alten Schlossgespenstergeschichten angetreten.
     Andrew erinnerte sich an einige der wahnsinnigen Artefakte, die jene Machwerke bevölkerten, wie den Antialbtraumhelm, der
     an eine kleine Dampfmaschine angeschlossen war, die das Böse aus den Träumen saugte und sie als süße Träume an den Schläfer
     zurückgab. Vor allem aber erinnerte er sich an die Maschine, die Dinge vergrößerte und die ein jüdischer Erfinder an Insekten
     ausprobierte. Das Bild der Stadt London, die von Fliegen in der Größe von Luftschiffen angegriffen wurde, welche Hochhäuser
     umknickten und Gebäude einstürzen ließen, indem sie nichts weiter taten, als sich daraufzusetzen, war auf lächerliche Weise
     schreckenerregend. Zu einer anderen Zeit hätte Andrew diese Bücher verschlungen. Doch nun wollte er keinen wie immer gearteten
     Balsam, er wollte direkt in den Abgrund des Nichts schauen, sodass Charles auch über den Umweg der Literatur nicht an ihn
     herankam. Andrew nahm an, dass das Buch dieses von seinem Cousin erwähnten Wells |110| tief in seiner Büchertruhe unter einem Berg ähnlicher sogenannter Romane lag, die er kaum

Weitere Kostenlose Bücher