Die Landkarte der Zeit
einmal durchgeblättert hatte.
Als Charles seinen abwesenden Blick gewahrte, schüttelte er in theatralischer Untröstlichkeit den Kopf, bedeutete ihm, sich
wieder zu setzen, zog einen anderen Stuhl herbei und setzte sich ihm gegenüber. Leicht vorgebeugt wie ein Priester, der sich
anschickt, einem Gläubigen die Beichte abzunehmen, erzählte er ihm in kurzen Worten den Inhalt des Buches, das seiner Meinung
nach England revolutioniert hatte. Andrew hörte skeptisch zu. Wie man dem Titel entnehmen konnte, handelte es von einem Wissenschaftler,
der eine Zeitmaschine erfand, mit der man durch die Jahrhunderte reisen konnte. Mit Hilfe eines einfachen Schalthebels an
seiner Apparatur beschleunigte sich der Erfinder in die Zukunft hinein und sah staunend, wie um ihn her Schnecken so schnell
wie Hasen liefen, Bäume wie Fontänen aus dem Boden sprangen und die Sterne an einem Himmel wirbelten, der Tag und Nacht in
einem einzigen Atemzug verstreichen ließ. Auf seiner unwahrscheinlichen Reise gelangte er bis ins Jahr 802701, wo er eine
Gesellschaft antraf, die sich in zwei gegnerische Rassen aufgeteilt hatte: die schönen und nutzlosen Eloi und die Morlocks,
monströse Geschöpfe, die unter der Erde lebten und sich von den oberirdischen Nachbarn ernährten, die sie wie Nutzvieh hielten.
Als Andrew das hörte, verzog er angewidert den Mund, worüber sein Cousin lachen musste und ihm sogleich erklärte, die Handlung
an sich sei nicht von Bedeutung, sie diene nur dazu, eine naive Karikatur der heutigen Gesellschaft zu zeichnen. Was den Verstand
der Engländer erschüttert hatte, war die Tatsache, dass Wells |111| die Zeit als eine vierte Dimension behandelte, sie zu einer Art Tunnel gestaltete, durch den man reisen konnte.
«Wie wir alle wissen, hat jeder Gegenstand drei Dimensionen», erklärte Charles, nahm seinen Hut ab und drehte ihn wie ein
Zauberer zwischen den Händen. «Höhe, Länge, Breite. Damit dieser Gegenstand aber wirklich existiert, damit dieser Hut Bestandteil
der Realität wird, in der wir uns befinden, braucht er aber noch etwas, nämlich Dauer. Er braucht nicht nur die räumliche
Ausdehnung, sondern auch die zeitliche. Wir sehen den Hut nicht nur, weil er Platz einnimmt, sondern auch Zeit. Das verhindert,
dass er vor unseren Augen verschwindet. Also, wir leben in einer dreidimensionalen Welt. Wenn wir jetzt die Zeit als eine
weitere Dimension sehen, was hindert uns, uns darin zu bewegen? Wir tun es ja schon. Du und ich und unsere Hüte, wir schreiten
in der Zeit voran, wenn auch nur langsam und linear, ohne eine einzige Sekunde zu überspringen, unerbittlich bis an unser
Ende. Und Wells fragt sich in seinem Buch, warum wir unsere Reise nicht beschleunigen oder uns sogar umdrehen und rückwärtsreisen
bis in die Region, die wir Vergangenheit nennen und die nichts anderes ist als der abgespulte Faden unseres Knäuels. Wenn
die Zeit eine räumliche Dimension ist, warum können wir uns dann nicht frei in ihr bewegen, wie wir es in den anderen drei
Dimensionen tun?»
Mit seinen Ausführungen zufrieden, legte Charles den Hut wieder aufs Bett. Nachdenklich schaute er Andrew an, ließ ihm Zeit,
seine Worte zu verdauen.
«Ich muss gestehen, nachdem ich den Roman gelesen hatte, schien mir das eine sehr einfallsreiche Art zu sein, einem Gedanken,
der immer nur Phantasie war, Wahrscheinlichkeit |112| zu verleihen», fuhr Charles nach einer Weile fort, als Andrew nichts sagte, «aber ich erwartete nicht, dass die Wissenschaft
es annehmbar fand. Das Buch wurde ein ungeheurer Erfolg, Andrew. In den Clubs, den Salons, in Universitäten und Kantinen wurde
über nichts anderes mehr gesprochen. Die Krise in den Vereinigten Staaten und ob England davon betroffen wird, Waterhouses
Malerei, Oscar Wildes Theaterstücke, alles kein Thema mehr. Die Leute diskutierten nur noch darüber, ob Zeitreisen möglich
waren oder nicht. Sogar die Frauen bei ihren Kaffeekränzchen konnten sich diesem Sog nicht entziehen. Darüber zu spekulieren,
wie die Welt von morgen aussähe, oder zu debattieren, welche Ereignisse der Vergangenheit verändert werden müssten, wurde
der Lieblingszeitvertreib aller Engländer, die sicherste Methode, die Konversation beim Nachmittagstee zu beleben. Es waren
natürlich fruchtlose Diskussionen, da man nie zu einem klärenden Schluss kommen konnte, ausgenommen in wissenschaftlichen
Kreisen, wo die Debatte noch viel hitziger betrieben wurde und von
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