Die Landkarte der Zeit
deren Verlauf die Zeitungen fast täglich berichteten. Nicht
zu leugnen war jedoch, dass Wells’ Roman den Funken entzündet, in den Menschen den Wunsch geweckt hatte, in die Zukunft zu
reisen, weit über das hinaus, was unser vergänglicher Leib uns erlaubte. Alle wollten in die Zukunft reisen, und das Jahr
2000 bot sich dafür förmlich an, denn ein Jahrhundert war mehr als genug, um alles zu erfinden, was es noch zu erfinden gab
und die Welt zu einem wunderbar fremden, nicht wiederzuerkennenden, zauberhaften, vielleicht sogar besseren Ort zu machen.
Im Grunde war das ein harmloses Spiel, ein naiver Traum. Bis vorigen Oktober ZEITREISEN MURRAY |113| seine Tore öffnete. Mit Pauken und Trompeten wurde es in den Zeitungen und auf Anschlägen verkündet: Gilliam Murray lässt
unsere Träume Wirklichkeit werden, lässt uns ins Jahr 2000 reisen. Trotz des hohen Preises für die Fahrkarten bildeten sich
lange Schlangen. Ich sah Leute, die immer behauptet hatten, Zeitreisen seien unmöglich, wie hoffnungsvolle Kinder vor seiner
Tür ausharren. Niemand wollte das verpassen. Madelaine und ich bekamen für die erste Expedition keinen Platz mehr, aber in
der zweiten. Und wir sind in die Zukunft gereist, Andrew. So, wie ich hier vor dir stehe, war ich hundertundfünf Jahre voraus
in der Zukunft und bin danach wieder zurückgekommen. Dieser Mantel hat noch Ascheflecken und riecht nach dem Krieg der Zukunft.
Ich habe sogar ein Stück Geröll eingesteckt, als niemand hingeschaut hat; einen Stein, den wir jetzt neben dem Shefeers-Geschirr
in der Vitrine im Salon aufbewahren und der sich zugleich in irgendeinem Gebäude des jetzt noch unzerstörten London befindet.»
Andrew fühlte sich wie in einem Boot, das von einem Strudel herumgewirbelt wird. Es wollte nicht in seinen Kopf, dass man
durch die Zeit reisen konnte, dass der Mensch nicht mehr nur an seine eigene Epoche, dieses vom Schlagen des Herzens und von
der Masse des Körpers begrenzte Terrain, gebunden sein sollte, sondern dass er andere Zeiten besuchen und Augenblicke erleben
konnte, die nicht zu ihm gehörten, dass er über seinen eigenen Tod und die verworrene Reihe seiner Nachkommen hinauszuspringen,
die unantastbare Zukunft zu entweihen und dorthin zu gelangen vermochte, wo allein die Träume und die Phantasie hinreichten.
Und zum ersten Mal seit Jahren spürte er die Neugier in sich erwachen, hatte er das Gefühl, |114| etwas von der Welt, die jenseits des Palisadenzauns seiner Abgestumpftheit existierte, wecke sein Interesse. Er zwang sich
jedoch sofort, das zarte Flämmchen zu ersticken, bevor ein Brand daraus werden konnte. Er war in Trauer, ein Mensch mit einem
nutzlosen Herzen, einer betäubten Seele in seiner Brust, ein gefühlloses Geschöpf, ein ausgelaufenes Exemplar der menschlichen
Rasse, das alles empfunden hatte, was es zu empfinden gab. Auf der ganzen weiten Welt gab es nichts, wofür es sich zu leben
lohnte. Er konnte nicht mehr leben, nicht ohne sie.
«Sehr ungewöhnlich, Charles, in der Tat», seufzte er müde, als ließe ihn all das widernatürliche Reisen kalt, «bloß, was hat
das mit Marie zu tun?»
«Siehst du das denn nicht?», rief Charles beinah empört. «Dieser Mann lässt in die Zukunft reisen. Ich bin sicher, wenn man
ihm genügend Geld anbietet, könnte er auch eine Privatreise in die Vergangenheit arrangieren. Da hättest du dann einen, auf
den du schießen könntest.»
Andrew stand der Mund offen.
«Auf den Ripper?», stammelte er kaum hörbar.
«Genau», antwortete Charles. «Wenn du in die Vergangenheit reist, könntest du Marie mit eigenen Händen retten.»
Andrew klammerte sich an der Stuhllehne fest, um nicht umzusinken. Sollte das möglich sein?, fragte er sich bestürzt. Konnte
er in die Vergangenheit des 7. November 1888 reisen und Marie das Leben retten? Der Gedanke an diese Möglichkeit betäubte ihn schier; und das nicht allein
wegen des Wunders, die Zeit rückgängig machen zu können, sondern wegen der Tatsache, in eine Zeit zurückzukehren, in der sie
noch lebte, und wieder ihren Körper in |115| den Armen zu halten, den er verstümmelt vor sich gesehen hatte. Vor allem aber erschütterte ihn, dass jemand ihm die Gelegenheit
bot, Marie zu retten, seinen Irrtum wiedergutzumachen, zu ändern, was er all die Jahre als unabänderlich hinzunehmen gelernt
hatte. Wie oft hatte er den Herrn angefleht, das tun zu können. Offenbar hatte er seine Gebete an die
Weitere Kostenlose Bücher