Die Landkarte der Zeit
falsche Adresse gerichtet.
Sie lebten im Jahrhundert der Wissenschaft.
«Wir verlieren nichts, wenn wir es versuchen», hörte er seinen Cousin sagen. «Was meinst du, Andrew?»
Andrew starrte lange auf den Boden und versuchte den Gefühlsaufruhr in seinem Inneren zu bändigen. Er glaubte zwar nicht an
die Möglichkeit, aber wenn sie bestand, wie konnte er sie dann ausschlagen! Es war genau das, was er immer gewollt hatte;
die Gelegenheit, auf die er seit Jahren wartete. Er hob den Kopf und schaute seinen Cousin unbehaglich an.
«Einverstanden», sagte er heiser.
«Großartig, Andrew», jubelte Charles und klopfte ihm auf die Schulter. «Ganz großartig.»
Andrew warf ihm einen zweifelnden Blick zu und schaute wieder auf seine Schuhe, versuchte das Ganze zu verdauen: Er würde
in eine bekannte Vergangenheit reisen, zu den schon einmal benutzten Momenten seines Lebens, zu seinen eigenen Erinnerungen.
«Also gut», sagte Charles und sah auf seine Taschenuhr, «zuerst einmal gehen wir essen. Es ist nicht ratsam, mit nüchternem
Magen zu reisen.»
Sie verließen das Zimmerchen und gingen zu Charles’ Kutsche, die vor dem Eingang wartete. In dieser Nacht, als wäre es eine
ganz gewöhnliche, absolvierten sie den |116| üblichen Rundgang. Sie aßen im Café Royal zu Abend – Charles starb für die Fleischpastete, die sie dort machten – und gingen zur Verdauung ins Bordell von Madame Norrell – Charles nahm sich gern der Neuerwerbungen an, bevor sie durch zu viele Hände gegangen waren. Am Ende landeten sie im Coleridges
– deren Champagnerauswahl Charles höher schätzte als die jeder anderen Bar – und tranken dort bis zum Morgengrauen. Bevor
der Alkohol ihnen zu sehr zu Kopf steigen konnte, erklärte Charles, dass man in einer Straßenbahn namens Cronotilus, die von
einer gewaltigen Dampfmaschine angetrieben werde, ins Jahr 2000 fahre, doch Andrew stand nicht der Sinn nach Zukunft. Mit
seinen Gedanken war er genau in der Gegenrichtung unterwegs, stellte sich vor, wie es sein musste, in die Vergangenheit zu
reisen. Dort könnte er Marie retten, hatte sein Cousin ihm versichert, indem er den Ripper aufhielt. In den vergangenen Jahren
hatte Andrew einen glühenden Zorn auf dieses Ungeheuer entwickelt, den er immer für sinnlos gehalten hatte, jetzt jedoch von
der Kette lassen könnte. Andererseits war es nicht dasselbe, gegen einen Mann zu wüten, der hingerichtet worden war, wie gegen
denselben in der Wirklichkeit anzutreten, in einer Art Faustkampf, den Murray für ihn organisierte. Er umklammerte die Waffe
in seiner Tasche, während er an den harten Zusammenprall mit dem knorrigen Mann in der Hanbury Street dachte, und versuchte
sich mit dem Gedanken Mut zu machen, dass er zwar noch nie auf einen Menschen geschossen, seine Treffsicherheit aber an Flaschen,
Tauben und Kaninchen trainiert hatte. Wenn er kaltes Blut bewahrte, würde alles gutgehen. Er würde ruhig auf das Herz oder
den Kopf zielen, ohne Hast abdrücken |117| und den Ripper zum zweiten Mal sterben sehen. Ja, das würde er. Nur würde, als hätte jemand eine lockere Schraube im Getriebe
der Welt angezogen und es damit wieder zum Rundlaufen gebracht, der Tod des Rippers diesmal Marie Kelly das Leben zurückgeben.
|118| VII
Trotz der frühen Morgenstunde wimmelte es von Menschen in Soho. Man sah Männer mit Bowlern und Frauen mit blumengeschmückten
Hütchen, in denen manchmal sogar ein künstliches Vögelchen nistete. Arm in Arm flanierten die Paare auf den Gehwegen, betraten
Geschäfte und kamen aus Läden oder versuchten auf die andere Straßenseite zu gelangen, dabei Ausschau haltend nach einer Lücke
in dem wie Lava sich durch die Straßen wälzenden Strom von Luxuskarossen, kleinen Cabriolets, zweistöckigen Bussen und Karren,
beladen mit Fässern, Bergen von Obst und Gemüse oder geheimnisvoll unter einer Plane verborgener Fracht, welche vielleicht
aus vom Friedhof gestohlenen Leichen bestand. An den Straßenecken sah man, schmutzig und zerlumpt, drittklassige Maler, Schauspieler
und Gaukler ihr zweifelhaftes Talent in der Hoffnung vorführen, einem gelangweilten Agenten oder Impresario aufzufallen. Charles
hatte, seit sie unterwegs waren, ununterbrochen geredet, doch im kreischenden Lärm der über das Kopfsteinpflaster ratternden
Räder, der gellenden Rufe von Straßenverkäufern und Möchtegernartisten nahm Andrew dessen Worte kaum auf. Lethargisch ließ
er sich von seinem
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