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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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wiederzugeben. Er hatte sich mit einer vagen Annäherung zufriedengegeben,
     die an eine kantige Ritterrüstung erinnerte. Sie bestand aus zusammengenieteten Eisenplatten, gekrönt von einem klobigen,
     glockenförmigen Kopf, in den zwei quadratische Öffnungen als Augen eingelassen waren und ein schmaler Schlitz, wie an einem
     Briefkasten, der den Mund darstellte.
    |285| Claire wurde schwindlig bei dem Gedanken, dass diese beiden sich gegenüberstehenden Gestalten zum Gedenken an ein Ereignis
     aufgestellt worden waren, das noch gar nicht stattgefunden hatte. Diese beiden Personen waren nicht nur noch nicht gestorben,
     sondern noch nicht einmal geboren. Obwohl, im Grunde, dachte sie, konnte man die beiden schon als Grabdenkmale betrachten,
     denn genau wie die Toten gehörten weder der Hauptmann noch seine Nemesis der Welt jener an, die hier in diesem Saal ihrer
     gedachten. Es war egal, ob sie schon gegangen oder noch gar nicht gekommen waren; was zählte, war, dass es sie nicht gab.
     
    Lucy riss sie aus ihren Betrachtungen und zog sie am Arm mit sich zu einem Paar, welches ihnen von der anderen Seite des Saals
     zuwinkte. Der Mann, ein kleiner, geleckt aussehender Dicker in den Fünfzigern, in einen hellblauen Dreiteiler gezwängt, dessen
     geblümte Weste über seinem Bauch jeden Moment zu platzen drohte, erwartete sie mit ausgebreiteten Armen und zu einer grotesken
     Freudenmiene verzogenem Gesicht.
    «Meine liebe Kleine», rief er in väterlichem Ton, «so eine Überraschung, dich hier zu sehen. Ich wusste gar nicht, dass deine
     Familie bei dieser sympathischen Expedition auch dabei ist. Da kotzt doch der alte Nelson aufs Schiff!»
    «Mein Vater ist nicht mitgekommen, Mr.   Ferguson», gestand Lucy mit einem zerknirschten Lächeln. «Dass meine Freundin und ich hier sind, ist eigentlich unser kleines
     Geheimnis, von dem er hoffentlich niemals erfährt.»
    «Selbstverständlich nicht, mein Liebes», beruhigte sie |286| Ferguson sogleich und zeigte sich entzückt über ihren Streich, für den er seine eigene Tochter, ohne zu zögern, an den Daumen
     aufgehängt hätte. «Bei uns ist dein Geheimnis gut aufgehoben, nicht wahr, Grace?»
    Seine Gattin nickte mit demselben schleimigen Lächeln und brachte dadurch das kettenhemdartige Collier in Bewegung, das sich
     wie ein Luxusverband um ihren Hals schmiegte. Lucy dankte ihnen mit einem bewundernswerten Augenaufschlag und stellte ihnen
     Claire vor, die nur mit Mühe ihr Grausen verbergen konnte ob des sabbernden Kusses, mit dem der Mann ihre Hand benetzte.
    «Nun ja», sagte Ferguson, nachdem sie vorgestellt worden waren, und während er seinen Blick wohlwollend zwischen den jungen
     Damen hin- und hergleiten ließ, «ganz schön aufregend, das Ganze, nicht? In wenigen Minuten reisen wir ins Jahr 2000, und
     obendrein erleben wir noch einen Krieg.»
    «Glauben Sie, dass es gefährlich werden könnte?», fragte Lucy ein wenig beunruhigt.
    «Nein, nein, ach was, meine Liebe.» Ferguson wedelte ihre Besorgnis mit der Hand beiseite. «Ted Fletcher, ein guter Freund
     von mir, war bei der ersten Expedition dabei und hat mir versichert, dass es nichts zu befürchten gibt. Absolut nichts. Wir
     werden die Schlacht aus sicherer Entfernung beobachten. Allerdings hat das auch seine Nachteile. Wir werden nicht jede Einzelheit
     sehen können. Fletcher hat mir geraten, Ferngläser mitzunehmen. Haben die Damen welche dabei?»
    «Nein», sagte Lucy bedauernd.
    «Nun, haltet euch in unserer Nähe, dann könnt ihr unsere mitbenutzen», empfahl Ferguson. «Von der Schlacht |287| dürft ihr nichts verpassen, Kinder. Fletcher sagt, dass sie das kleine Vermögen wert ist, das wir dafür bezahlen.»
    Claire runzelte die Stirn über diesen abstoßenden Menschen, der ohne jede Verlegenheit die Schlacht um das Schicksal des Planeten
     auf ein Jahrmarktsspektakel reduzierte. Sie lächelte erleichtert, als Lucy ein vorbeigehendes Pärchen begrüßte und es einlud,
     sich zu ihnen zu gesellen.
    «Das ist meine Freundin Madelaine», verkündete Lucy begeistert, «und das ist ihr Gatte, Mr.   Charles Winslow.»
    Claires Lächeln gefror, als sie diesen Namen vernahm. Sie hatte schon viel von Charles Winslow gehört, einem der reichsten
     und schneidigsten jungen Männer der Stadt. Sie war ihm bislang noch nicht vorgestellt worden, was ihr aber nicht gerade den
     Schlaf raubte, denn dass alle ihre Freundinnen ihn verehrten, reichte schon, sie gegen ihn einzunehmen. Sie konnte ihn sich
    

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