Die Landkarte des Himmels
sehr viel aufregendere Zukunft bieten.›
‹Was genau meinen Sie, Sir?›, fragte ich. Irgendwie störte mich dieser aufgeblasene Ton, in dem er mit mir sprach.
‹Ich biete Ihnen an, Ihre Fähigkeiten für eine andere Art von Fällen einzusetzen. Spezialeinsätze, Agent Clayton. Wir kümmern uns um ganz besondere Aufgaben. Leider ist dafür eine glänzende Beurteilung allein nicht ausreichend. Was wir brauchen ist eine gewisse … Begabung.›
‹Würden Sie mir das näher erklären, Sir?›
‹Für unsere Arbeit brauchen wir einen ungebundenen Geist, Agent Clayton. Verfügen Sie über einen ungebundenen Geist?›
Ich überlegte einen Moment, denn ich wusste wirklich nicht, was ich darauf antworten sollte. Über diese Frage hatte ich noch nie nachgedacht; aber klar, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde, verfügte ich über einen ungebundenen Geist. Hauptmann Sinclair lächelte zufrieden.
‹Wir werden sehen, ob das stimmt›, rief er mit bühnenreifer Begeisterung, während er einen Zeitungsausschnitt aus seiner Aktenmappe zog und ihn vor mir auf den Tisch legte. ‹Lesen Sie die Meldung aufmerksam durch und sagen Sie mir, welche Lösungen Ihnen einfallen; alle Lösungen, egal wie unwahrscheinlich sie klingen. Was, glauben Sie, war die Todesursache?›
Die Zeitungsmeldung war schon zwei Jahre alt und berichtete vom Tod eines Bettlers. Seine Leiche war auf einer Müllkippe außerhalb der Stadt gefunden worden. Sie war ziemlich unkenntlich, weil von Straßenkötern angefressen; aber die Todesursache blieb ein Rätsel, denn die Autopsie hatte keinerlei Hinweise erbracht. Der Reporter, der die Meldung verfasst hatte, schien ein geistergläubiger Mensch zu sein, denn er beschloss seinen Bericht mit dem Hinweis, dass der Tod in einer Vollmondnacht eingetreten war und der Tote rings um sich wie verzweifelt Kreuze in die Erde gekratzt hatte, als hätte er sich damit den Teufel vom Leib halten wollen. Ich las die Meldung mehrere Male aufmerksam durch und nannte dem Hauptmann dann alle Todesursachen, die mir einfielen. Ich sagte, da sich kein Mensch von Hunden auffressen lässt, solange er noch ein Minimum an Kraft besitzt, um sie zu verscheuchen, und da Hunde auch nicht über lebende Menschen herzufallen pflegen, sei der Tote wahrscheinlich vergiftet und dann an diesen Ort gebracht worden, und der Mörder habe aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Kreuze in die Erde gekratzt, bevor er sich aus dem Staub gemacht habe. Ich sagte ihm weiter, dass es sich auch um einen unabsichtlichen Mord, also eine Art Unfall handeln könnte, den der Täter zu vertuschen versucht hatte, und noch ein paar Dinge dieser Art, die mir spontan einfielen.
«Ist das alles?», fragte Hauptmann Sinclair und machte ein übertrieben enttäuschtes Gesicht. ‹Ich hatte gesagt, alle Möglichkeiten, die Sie sich vorstellen können, so unglaublich sie auch klingen mögen.›
Da konnte ich nicht anders, als nachzulegen:
‹Natürlich hätte es auch ein Werwolf sein können. Es war eine Vollmondnacht, und in solchen Nächten verwandeln sie sich ja wohl. Er hat den Bettler an der Müllkippe totgebissen und nicht die Hunde. Und während er sich seinem Opfer noch näherte – ein riesiger Wolf auf zwei Beinen –, hat dieses die Kreuze in die Erde geritzt, um ihn damit wieder in die Hölle zurückzuscheuchen.›
Und Hauptmann Sinclair – wieder mit seiner enttäuschten Miene – fragte:
‹Sind Sie fertig?›
‹Nein, noch nicht›, antwortete ich. ‹Es hätte auch ein Vampir sein können, da das Verbrechen in der Nacht stattgefunden hat. Dazu würden auch die Kreuze passen, die das Opfer in die Erde geritzt hat. Oder der Vampir hat sich in Gestalt eines Werwolfs gezeigt, um den Verdacht auf seinen alten Erzfeind zu lenken, mit dem er vielleicht schon von Anbeginn der Zeiten um die Herrschaft auf Erden kämpft. Das wäre dann alles, Herr Hauptmann. Ist meine Vermutung richtig?›
‹Sie sind noch nicht so weit, das zu erfahren.› Er lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück und musterte mich mit sachlicher Neugier. ‹Aber sagen Sie mir: Würden Sie gern in einer Abteilung arbeiten, in der solche Antworten die richtigen sein könnten? In meiner Abteilung ist das Unmögliche manchmal die Lösung. Bei uns darf man seiner Phantasie keine Zügel anlegen. Manchmal setzen unsere Schlussfolgerungen erst da an, wo der normale menschliche Geist aufgibt.›
Ich muss wohl recht ratlos dreingeschaut haben und wusste nicht, was ich sagen sollte,
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