Die Landkarte des Himmels
Basar, den sich der Agent in dem Zimmer eingerichtet hatte. Auf einem der Tische, neben einem aufgeschlagenen mittelalterlichen Bestiarium mit herrlichen Illustrationen von Greifen, Harpyien, Basilisken, Drachen und sonstigen Zauberwesen, an deren Rand sich Clayton in winziger Schrift Notizen gemacht hatte, entdeckte er ein Ouijabrett.
«Ich wusste gar nicht, dass Sie Spiritist sind, Agent Clayton», sagte Wells, das in das geschnitzte Stück Holz eingeritzte Alphabet streichelnd.
«Das sollte Sie nicht allzu sehr verwundern», antwortete Clayton, ohne sich umzudrehen. «Geister sind die besten Spitzel, die sich ein Polizist wünschen kann. Sie sehen alles und wollen keine Bezahlung. Manchmal bitten sie einen allerdings um lächerliche Erledigungen, die sie im Reich der Lebenden nicht mehr zu Ende gebracht haben.»
«Verstehe …», sagte Wells gedehnt, unsicher, ob Clayton ihn auf den Arm nahm.
Aufmerksam betrachtete er jetzt ein halbes Dutzend merkwürdiger Apparaturen, die neben dem Tisch aufgereiht waren. Sein besonderes Interesse weckte ein Apparat, der wie ein Mittelding zwischen Grammophon und Schreibmaschine aussah. Das Artefakt, aus dem Stangen und Hebel herausragten wie Stacheln aus einem Kaktus, war mit vier Rädern versehen und wurde von einer Art Füllhorn aus verchromtem Kupfer gekrönt.
«Was ist das?»
«Oh, das ist ein Metaphon», sagte Clayton, nachdem er einen flüchtigen Blick darauf geworfen hatte.
Wells wartete auf eine weiterführende Erklärung, doch da keine kam, sah er sich gezwungen, nachzufragen.
«Und was zum Teufel macht man damit?»
«Theoretisch kann man Stimmen und Geräusche aus den nächsten Dimensionen damit aufnehmen. Aufgrund der kargen Ausbeute kann man aber auch sagen, dass es zu nichts gut ist.» Clayton starrte immer noch unentschlossen auf seine Prothesensammlung. «Ich versuche damit einen Jungen namens Owen Spurling ausfindig zu machen, der im Frühsommer letzten Jahres aus einer Ortschaft in Stafford verschwunden ist. Seine Mutter hatte ihn zum Brunnen zum Wasserholen geschickt, und er ist nicht mehr zurückgekommen. Die nach ihm suchten, stellten fest, dass seine Fußspuren im Schnee mehrere Meter vorm Brunnen plötzlich aufhörten, als wäre er von einem Adler oder sonst einem Riesenvogel ergriffen und fortgetragen worden. Sie haben die ganze Umgebung abgesucht, aber nichts gefunden. Kein Mensch konnte sich erklären, was passiert war; vor allem, weil die Mutter ihn vom Fenster aus im Auge behalten und ihren Blick höchstens ein paar Sekunden lang abgewendet hatte. Der Junge hat sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Wahrscheinlich ist er in einer anderen Dimension gelandet und findet jetzt nicht mehr zurück. Mit dem Metaphon kann ich ihn vielleicht hören und ihm Anweisungen geben; falls ich wirklich einmal mehr darauf aufnehme als nur das Zwitschern der Vögel von Stafford.»
«Warum wollen Sie ihn denn zurückholen? Vielleicht ist dieser Owen ganz glücklich in seiner anderen Welt, in der er mit fünfbeinigen Hündchen spielen kann», witzelte Wells.
Clayton ignorierte ihn und entschied sich jetzt für eine Prothese, die ziemlich naturgetreu einer Menschenhand nachgebildet war und auf den ersten Blick keinerlei Extras besaß, die sie zu einer Waffe machten. Wells bemerkte jedoch, dass auf Höhe des Handgelenks ein Stift oder eine Feder zu sehen war.
«Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, dich einzuweihen, alte Freundin …», murmelte Clayton, während er die Prothese wehmütig lächelnd in der anderen Hand wog.
Er begann sie vorsichtig anzuschrauben. Als er fertig war, wandte er sich mit bedächtigem Nicken wieder an Wells.
«Ich verstehe Ihre Widerstände, an derlei Dinge zu glauben, Mr. Wells», sagte er. «Diese skeptische Miene habe ich selbst Dutzende Male im Spiegel gesehen, bevor sie allmählich verschwand. Man gewöhnt sich an alles, Mr. Wells, glauben Sie mir. Und wenn Sie das akzeptiert haben, wenn Sie zugeben können, dass es Dinge auf der Welt gibt, die man nicht erklären kann, dann werden Sie auch glauben können, dass das Unmögliche möglich ist. Dann werden Sie an Magie glauben.»
«Schon gut …», murmelte Wells.
Clayton musterte den Schriftsteller nicht ohne Sympathie.
«Erlauben Sie mir, Ihnen von der Zeit zu erzählen, als ich noch so war wie Sie; als ich Agent Cornelius Clayton war und noch nicht Spezialagent Cornelius Clayton. Vielleicht hilft Ihnen das. Vor gut zehn Jahren war ich ein ganz normaler junger Mann, der
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