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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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glaubte, die Welt sei so, wie sie sich ihm darstellte. Ich hatte dieselbe verengte Weltsicht, wie Sie sie haben; aber dafür hatte ich noch zwei gesunde Hände aus Fleisch und Blut.»
    Clayton hatte es in scherzhaftem Ton gesagt; doch so wie der Herbstwind trockenes Laub über die Wege weht, glaubte Wells einen wehmütigen Unterton mitschwingen zu hören, als würde der Agent zwar gern in seinen Erinnerungen schwelgen, zugleich jedoch von dem Gefühl gepeinigt, auf dem Weg allzu viel geopfert, allzu viel verloren zu haben, um sich jetzt noch in dem jungen Mann wiederzuerkennen, der damals so sorglos sein Schicksal gewählt hatte.
    «Mein Vater war schon Polizist, und ich folgte seinem Beispiel und trat bei Scotland Yard ein, um Verbrecher zu jagen. Meine Entschlossenheit und väterlicher Rat bescherten mir eine glänzende Personalakte, und blutjung, wie ich damals war, wurden meine Vorgesetzten schon bald auf mich aufmerksam, klopften mir immer häufiger auf die Schulter. Ich war gerade erst zwei Jahre im Dienst, da rief mich Superintendent Thomas Arnold eines Tages in sein Büro. Anscheinend habe jemand ein besonderes Interesse, mich kennenzulernen, sagte er. Und dann stellte er mich dem ungewöhnlichsten Menschen vor, den ich je zu Gesicht bekommen hatte; bis dahin jedenfalls.
    Ein dicker, energischer Mann, etwa fünfzig, mit einer seltsamen Augenklappe über dem rechten Auge. Zuerst fragte ich mich, ob er sein richtiges Auge verloren hatte oder nur unter der Klappe versteckte, beziehungsweise hinter dem künstlichen Auge, das da jetzt war: so etwas wie eine runde, eingefasste Linse, die mit einem quer über den Kopf laufenden Lederriemen befestigt war. Das Innere der Linse schien abgestuft zu sein, und in der Mitte befand sich ein kleinerer Kreis, in dem ein rötlicher Schimmer zu sehen war. Von meiner Verwirrung unbeeindruckt, reichte er mir seine erstaunlich kleine, aber kräftige Hand, deren Finger überladen waren mit Ringen voller seltsamer Symbole. Er stellte sich als Hauptmann Angus Sinclair vor, Chef einer Spezialeinheit, von der ich noch nie gehört hatte. Der Superintendent ließ uns daraufhin allein, und der merkwürdige Mann nahm wie selbstverständlich seinen Platz ein und forderte mich mit einer Handbewegung auf, gleichfalls Platz zu nehmen. Als ich ihm gegenübersaß, lächelte er mich an und klopfte zufrieden auf die Blätter einer Akte, die vor ihm lag und die, wie ich bald herausfand, meine Personalakte war.
    ‹Eine glänzende Laufbahn, Agent Clayton. Meinen Glückwunsch›, sagte er mit sonorer Stimme.
    ‹Danke, Sir›, antwortete ich und bemerkte das ungewöhnliche Abzeichen, das er im Knopfloch seines linken Revers trug. Es war ein geflügelter Drache.
    ‹Hmm … Sie sind jung und intelligent, Sie werden es noch weit bringen in diesem Laden. Bestimmt bis zum Obersten. Dann gehen Sie, fett wie ich und weißhaarig, in Pension, und mit siebzig oder achtzig schließen Sie die Augen und sterben in dem zufriedenen Gefühl, mit dem Auflösen von Mordfällen und dem Einsperren von Verbrechern eine beneidenswerte Karriere hingelegt zu haben.›
    ‹Danke für Ihre prophetische Auskunft, Sir›, antwortete ich, verärgert über den zynischen Ton, mit dem er alles runtermachte, was ich bisher geleistet hatte und noch zu leisten gedachte.
    Der Hauptmann fand für meine Darbietung jugendlicher Hitzköpfigkeit nur ein belustigtes Lächeln.
    ‹Oh, das sind alles ehrenwerte Dinge, mein Sohn, auf die jeder stolz sein kann. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie damit nicht zufrieden sind, dass Sie mehr wollen.› Er starrte mir sekundenlang ins Gesicht, der rötliche Schimmer in seinem mechanischen Auge wurde intensiver, und ich glaubte sogar, ein leises Surren hinter der Linse wahrzunehmen. ‹Das Problem ist nur›, fuhr er fort, ‹dass Sie nichts kennen, was diesem gesteigerten Ehrgeiz ein Gesicht geben könnte. Oder irre ich mich?›
    Nein, er irrte sich nicht; aber ich zog es vor, ihm dies nicht mitzuteilen. Ich wartete einfach ab, was dieser merkwürdige Mensch von mir wollte.
    ‹Sie werden Oberst oder was immer Sie sich vornehmen, keine Frage›, fuhr er fort. ‹Das zeigen Ihre außerordentlichen beruflichen Fähigkeiten ganz deutlich. Aber von der Welt werden Sie weiterhin keine Ahnung haben, junger Mann. Absolut keine Ahnung, auch wenn Sie glauben, alles zu wissen.› Er lehnte sich zurück und grinste mich herausfordernd an. ‹Tja, so wird Ihre Zukunft aussehen. Ich aber kann Ihnen eine

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