Die Landkarte des Himmels
auch Hochmütigkeit. Aus ihren dunklen, beinahe schwarzen Augen sprühte ein raubtierhafter Glanz, und in den Winkeln ihrer vollen Lippen ruhte – gleich einem Tautropfen auf einem Rosenblütenblatt – ein unergründliches Lächeln, in dem Wells einen Anflug von Bosheit zu erkennen glaubte.
«Wer ist das?», fragte er.
«Die Gräfin Valerie de Bompard», antwortete Clayton, unfähig, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen, als er den Namen aussprach.
«Eine wunderschöne Frau», sagte Wells anerkennend und fragte sich, ob das wirklich das treffendste Adjektiv war.
«Ja, diesen Eindruck hat Valerie auf alle Männer gemacht. Sie brachte jeden, der sie ansah, dazu, zu glauben, die schönste Frau der Welt vor sich zu haben», bestätigte Clayton, dessen Stimme mit einem Mal seltsam schwach und erschöpft klang, als stünde er unter der Wirkung von Laudanum.
«Sie ist gestorben?», fragte Wells, dem nicht entgangen war, dass Clayton in der Vergangenheitsform von ihr gesprochen hatte.
«Ich habe sie getötet», entgegnete Clayton düster.
Wells schaute ihn verblüfft an.
«Es war mein erster Fall», fügte der Agent hinzu. «Und der einzige, den ich mit meinen beiden Händen gelöst habe.» Sein Blick glitt zu dem Porträt hinauf.
Tief beeindruckt von diesen Worten schaute auch Wells es wieder an. War diese Frau schuld daran, dass Clayton seine Hand verloren hatte? Er betrachtete die Leinwand jetzt genauer und hatte erneut das Gefühl, dass das Adjektiv «wunderschön» nicht das angemessenste für die Dame war. Sie war wunderschön, gewiss, aber in ihren Augen schimmerte ein dunkles Licht, etwas Wildes, das ihn beunruhigte. Es war, als strahlte aus den Pupillen mehr als nur sie selbst, etwas Unermessliches, so wie in einem Glas Wein auch das Aroma der Erde, der Sonne und des Regens enthalten ist. Wenn er sie gekannt hätte, dachte Wells, würde er sich in ihrer Gegenwart vermutlich nicht natürlich verhalten haben können. Und schon gar nicht hätte er ihr den Hof machen können. Was auch immer zwischen ihr und dem Agenten vorgefallen sein mochte, es hatte ihn so getroffen, dass er sich immer noch nicht davon erholt hatte und sich vielleicht auch nie davon erholen würde. Wells spürte dies deutlich, weil Clayton in seiner Körperhaltung, in seinem Gesichtsausdruck, in seinem ganzen Sein die Erinnerung an dieses Ereignis bewahrte. Das war so offensichtlich wie ein an seinem Haken hin und her baumelnder Schlüssel verrät, dass ihn jemand gerade erst wieder hingehängt hat.
Einen Moment lang erwog Wells die Möglichkeit, Clayton zu fragen, der dies vielleicht erwartete. Ja, möglicherweise sehnte er sich danach, jemandem zu erzählen, was zwischen ihm und der Frau passiert war, deren Porträt er in seinem Keller versteckte. Gerade jetzt, da die Welt unterging. Und das hier war vielleicht seine unbeholfene Art, darum zu bitten. Doch dann verwarf er den Gedanken, weil er nicht wieder von Clayton hören wollte, es gäbe Dinge auf der Welt, die zu erfahren nicht für jeden ratsam sei. Bei diesem Gedanken fiel ihm ein, wie er auf dem Weg nach Horsell Clayton verschwiegen hatte, dass er in der Wunderkammer des Museums gewesen war, weil er befürchtet hatte, der Agent könnte ihn beschuldigen, sich Zugang zu einem verbotenen Ort verschafft zu haben. Seit jenem fernen Tag hatten sich die Dinge jedoch gewaltig verändert, und er fand es gar nicht mehr so abwegig, dem Agenten dieses Geständnis zu machen. Dann würde der seine ärgerliche Zurückhaltung vielleicht aufgeben, und er könnte von Gleich zu Gleich, auf Augenhöhe gewissermaßen, mit ihm sprechen.
«Ja, wir leben in einer Zeit voller Rätsel», sagte er, versonnen das Porträt anlächelnd. «Aber Sie kennen sie alle, nicht wahr, Clayton? Sie wussten sogar, wie Marsmenschen aussahen, bevor wir in Scotland Yard einem begegnet sind.»
Clayton löste seinen Blick von dem Bild, und als erwachte er gerade aus tiefem Schlaf, schaute er Wells verständnislos an.
«Ich weiß nicht, was Sie meinen», antwortete er schließlich. Seine Stimme klang kalt.
«Ach, hören Sie doch auf, mich wie einen Dummkopf zu behandeln! Ich weiß genau, wozu der kleine Schlüssel passt, den Sie um den Hals tragen.»
«Tatsächlich?» Der Agent fasste sich unwillkürlich an die Stelle.
«Aber sicher doch», bekräftigte Wells und starrte ihn herausfordernd an. «Ich bin drinnen gewesen.»
Clayton machte ein überraschtes Gesicht, dann trat ein belustigtes Lächeln auf seine
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