Die Landkarte des Himmels
doch zu meiner Erleichterung erklärte Sinclair, ich könne mir ein paar Tage Zeit nehmen, um über alles nachzudenken. Sollte meine Antwort jedoch negativ ausfallen, sei es das Gesündeste für mich, zu vergessen, dass dieses Gespräch je stattgefunden habe. Es war die erste Warnung, die er aussprach; aber nicht die letzte, und auch nicht die überraschendste. Dann gab er mir einen Zettel mit der Anschrift der Sonderabteilung, in der ich mich eine Woche später melden sollte, falls ich sein Angebot annähme.
Ich benötigte nur eine schlaflose Nacht, um mir darüber klarzuwerden, dass ich dieses Gespräch niemals würde vergessen können. Tatsächlich war es schon um mich geschehen gewesen, als ich das Büro des Superintendenten betrat. Ich war ein ehrgeiziger, von den eigenen Fähigkeiten überzeugter junger Mann, und da ich jetzt wusste, dass andere über mehr Information verfügten als ich selbst, würde ich nicht weiterleben können, ohne dieses Wissen ebenfalls zu besitzen. Schon am nächsten Vormittag wurde ich daher in der Sonderabteilung vorstellig und verlangte, in Hauptmann Sinclairs Büro gebracht zu werden, wo dieser mich bereits zu erwarten schien. Und dort entschied sich dann mein Schicksal.»
Clayton beschloss seinen Bericht mit bekümmertem Lächeln und wartete auf Wells’ Reaktion.
«Meinen Glückwunsch, dass Sie an Werwölfe und Vampire glauben», sagte er fast mitleidig.
«Oh, Sie irren sich, Mister Wells. Ich glaube nicht daran; ich habe dem Hauptmann nur erzählt, was er hören wollte. Nein, damals glaubte ich weder an Vampire noch an Werwölfe. Aber dieser Bursche leitete eine Spezialtruppe von Scotland Yard, und da wollte ich unbedingt mitmachen. Gemeine Verbrecher zu fangen, konnte mich nicht mehr zufriedenstellen. Ich hätte auch behauptet, der Bettler sei von einer Elfe umgebracht worden, wenn es nötig gewesen wäre.» Ein bitteres Lächeln umspielte Claytons Lippen. «Zwölf Jahre ist das jetzt her, Mister Wells. Zwölf Jahre. Und heute glaube ich an mehr Dinge, als mir lieb ist, das kann ich Ihnen versichern.»
«Ach ja? Dann existieren Vampire beispielsweise tatsächlich?», fragte Wells, die Gelegenheit ergreifend.
Clayton betrachtete ihn mit der lächelnden Miene, mit der ein Erwachsener ein wissbegieriges Kind anschaut.
«Dieses Haus hat einem gehört», sagte er und beobachtete vergnügt, wie Wells die Augenbrauen hob. «Jedenfalls glaubte er, einer zu sein. Lord Railsberg war sein Name, und er litt an einer seltenen Hautkrankheit, die ihm nicht erlaubte, sich dem Sonnenlicht auszusetzen. Außerdem litt er an Knoblauchunverträglichkeit und hatte sogar ein vorstehendes Kreuzbein; alles untrügliche Kennzeichen eines Vampirs, wie Legenden und einschlägige Romane unermüdlich verkünden. Sie wissen selbst, wie die Werke von Polidori, Preskett, Sheridan Le Fanu und vor allem Stokers erfolgreicher Roman den Vampirmythos verbreitet haben, sodass sich jeder, auf den eine dieser Charakteristiken zutrifft, einbilden kann, er wäre einer. Lord Railsberg jedenfalls ließ dieses Haus bauen und wohnte darin mit seinen Anhängern, die – wie er – ebenfalls das Licht scheuten. Sie gingen nur nach draußen, um junge Mädchen zu entführen, die sie später grausam töteten, um dann ihr Blut zu trinken oder sogar darin zu baden, wie diese ungarische Gräfin, Elizabeth Báthory, es angeblich getan hat. Als wir sein Versteck endlich ausfindig gemacht hatten, fanden wir hier zahllose Leichen und Leute, die in Särgen schliefen. Trotzdem hat es keiner dieser angeblichen Vampire, auch Lord Railsberg nicht, bisher geschafft, sich in eine Fledermaus zu verwandeln und aus dem Gefängnis zu entweichen, in dem sie seit Jahren sitzen. Also, ich kann Ihnen nicht sagen, ob es Vampire gibt oder nicht; doch wenn es sie gäbe, würden sie wohl eher den armen Bestien slawischer Legenden gleichen als den eleganten Adeligen, zu denen ihr Schriftsteller sie gemacht habt.»
«Verstehe», sagte Wells, der sich nicht angesprochen fühlte.
«Natürlich haben wir es nicht ausschließlich mit Verrückten oder Wahnsinnigen zu tun», fuhr Clayton fort. «Manchmal, wie gesagt, begegnen wir auch dem Unmöglichen.»
Nach diesen Worten schaute Clayton mit leidendem Blick auf ein Gemälde, das an der Wand hing. Wells folgte seinem Blick und entdeckte in einem gedrechselten Mahagonirahmen das Porträt einer in Öl gemalten, sehr schönen und allem Anschein nach reichen jungen Dame. In ihrem Blick lag Trauer, aber
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