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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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meiner Feinde zu fallen. Doch erst jetzt sehe ich, warum ich sie eigentlich habe anfertigen lassen und warum ich mich entschlossen habe, sie gerade heute einzusetzen. Alles, was wir tun, hat einen Sinn, nichts ist zufällig, wie Mister Winslow ganz richtig erkannt hat», sagte er und zeigte mit beiden Händen auf mich, als wäre ich eine Jahrmarktsabnormität. «Er ist der Einzige von uns, dem unsere Bestimmung von Anfang an klar vor Augen stand. Sie waren meine Inspiration, Mister Winslow.» Ich wand mich unbehaglich unter den vorwurfsvollen Blicken der anderen. «Dass wir uns alle hier in diesem Raum befinden, kann kein Zufall sein. Ich weiß nicht, was jedem von Ihnen bestimmt ist. Das müssen Sie selbst herausfinden. Aber ich weiß, wozu ich bestimmt bin: dazu, den Gesandten zu vernichten. Wie beim Schach endet das Spiel, wenn der König geschlagen ist. Wenn ich es nicht tue, wird die Invasion sich ausbreiten, und niemand wird sie mehr aufhalten können. Sie können sich selbst überzeugen.»
    Bei diesen Worten deutete er auf die Landkarten an den Wänden. Verwirrt traten wir näher, um sie uns genauer anzusehen. Eine der Karten war ein Plan von London, auf dem zahlreiche rote Kreuze den Vormarsch der Kriegsmaschinen verdeutlichten. Ein Blick darauf bestätigte uns, was wir schon von Primrose Hill aus hatten erkennen können: Die Hauptstadt unseres Landes gehörte bereits ihnen. Die nächste Karte war eine Weltkarte, und was wir dort erblickten, steigerte unseren Schrecken noch. Wie eine Seuche breiteten sich die Kreuze über den ganzen Erdball aus. Australien, Indien, Kanada und Afrika – aber auch viele Länder, die nicht zu den Kolonien des britischen Empires gehörten, in dem die Sonne nie unterging – waren in die Hände der Invasoren gefallen. Noch wenige Wochen, dann würde ihnen die ganze Erde gehören, und dann würde, wie Clayton ganz richtig erkannt hatte, niemand sie mehr besiegen können. Vor Entsetzen wie gelähmt, starrten wir wortlos auf die Karte. Ich glaube, erst in diesem Augenblick wurde mir das Ganze richtig bewusst. Trotz allem, was ich gesehen hatte, trotz der Kampfmaschinen, deren tödliche Strahlen nur wenige Schritte neben mir die Erde aufgerissen, ganze Häuserzeilen und Schiffe und Menschen mit lächerlicher Leichtigkeit zerstört und vernichtet hatten, hatte nichts mir die Augen mehr geöffnet, als dieses Stück Papier an der Wand: Wir würden vom Angesicht der Erde verschwinden. Die Menschheit würde ausgelöscht werden, und es würde sein, als hätte es uns nie gegeben.
    Clayton schaute uns an, als wollte er uns herausfordern, ihm weiter Hindernisse in den Weg zu legen oder auch einen besseren Plan vorzutragen, doch wir konnten ihm nur untröstliche Blicke zurückgeben. Zum Teil hatte er recht. Sein Plan war unverhältnismäßig, ja; aber was sonst konnten wir tun?
    Dann machte er uns auf einen seltsamen Apparat aufmerksam, der am anderen Ende des Zimmers stand, und wir traten neugierig näher. Auf einem Nussbaumtischchen stand eine rechteckige Apparatur von der Größe etwa eines Buches, über der sich – wie der Rauch eines offenen Feuers – ein bläulicher, ovaler Dunst erhob. Verwirrt betrachteten wir diese in rötlichen und bläulichen Tönen schimmernde Ellipse, in deren Innern Lichtpunkte und merkwürdig phosphoreszierende Gebilde zu erkennen waren. Wir hatten nicht die geringste Ahnung, was wir da sahen.
    «Was soll das sein?», fragte ich.
    «Wenn ich das richtig sehe, ist das eine Landkarte des Universums», sagte Clayton, noch immer auf den Schwingen der Inspiration, die ihn beim Betreten dieses Zimmers erfasst hatte.
    Wir schauten ihn ungläubig an, richteten unsere Blick jedoch sogleich wieder auf das seltsam zittrige Etwas. Dass wir nicht nur eine hübsche Rauchfigur vor uns haben sollten, sondern eine Darstellung des gesamten Kosmos, bereitete uns größtes Entzücken. Jeder Lichtpunkt in diesem veilchenblassen Nebel stellte eine Galaxie mit ihren Milliarden von Sternen dar, die in Streifen oder Büscheln darin schwebten. Sie hatten die Form von glitzernden Spiralen, malvenfarbenen Rosen, schimmernden Muscheln und sogar von Hüten oder Zigarren. Wie von einem Zauber erfasst, strich Wells über die Apparatur, und die Berührung bewirkte, dass die gasförmige Landkarte sich vergrößerte. Von einem Augenblick auf den anderen umwogte uns das Firmament wie ein glänzender Gazeschleier. Verzückt schauten wir uns an, mit leuchtenden Sternenbildern auf den Schultern,

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