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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Sollte er dem tapferen Hauptmann Shackleton sagen, dass er seine Claire gefunden hatte?
    Tagebuch von Charles Winslow
    17 . Februar 1900
    Mehrere Minuten lang geleiteten uns die Marsmenschen, angeführt von dem Mann mit dem Priesterkragen, durch ein Gewirr von Gängen, bis wir an eine Kreuzung kamen, wo sich in einer Wand eine geschlossene Pforte befand. Der Priester öffnete sie und forderte uns auf, hineinzugehen. Wir betraten eine Art Arbeitszimmer, geräumig und auf irdische Art möbliert: In der Zimmermitte stand auf einem dicken Teppich ein schwerer Mahagonischreibtisch, auf dem sich Akten und Bücher stapelten, zwischen denen ein scharfgeschliffener Brieföffner glänzte, der neben einem Standglobus und einer Schreibtischlampe lag. An den Wänden hingen Landkarten von allen Erdteilen, und überall im Raum standen Stühle mit gedrechselten Füßen und Lehnen, Tischchen in verschiedenen Größen, die meisten beladen mit Unmengen von Papieren.
    «Bitte, haben Sie die Güte, hier zu warten», sagte unser Führer höflich. «Er wird gleich kommen.»
    Dann wandte er sich dem Schriftsteller zu, und in seinem Blick lag unendlicher Respekt.
    «Es ist mir eine besondere Freude, Sie kennenzulernen, Mister Wells», sagte er wohlerzogen. «Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Werke.»
    Diese Bemerkung überraschte uns alle ebenso wie den Schriftsteller selbst; und nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte, erwiderte er mit kalter Stimme:
    «Dann hoffe ich, dass, wenn mein Werk untergeht, wie alles hier untergehen wird, es Sie genauso schmerzt wie mich.»
    Der Priester machte erst ein verwirrtes Gesicht, dann sagte er zögernd:
    «Ja, das ist eines der Dinge, die ich zutiefst bedaure, dessen seien Sie versichert.» Er schüttelte mitleidig lächelnd den Kopf. «Den Verlust von Schönheit zu beweinen ist eine so menschliche Regung … Wussten Sie, Mister Wells, dass, wenn ein Stern erlischt, sein Licht noch jahrtausendelang das All durcheilt? Das Universum erinnert sich seiner Verluste sehr, sehr lange … Aber es beweint sie nicht. Diese Verluste sind notwendig. Obwohl ich Ihnen nachweinen werde, wenn Sie verschwinden. Ja, ich werde weinen um all das Schöne, das Sie, die Menschen, hervorgebracht haben, unbewusst manchmal …» Er streifte uns mit einem bedauernden Blick. «Es tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte Ihnen einen besseren Trost spenden. Den Trost des guten Hirten für seine Herde. Aber ich kann es nicht, ich kann es nicht. Wir alle unterliegen den Gesetzen des Universums.»
    Er schenkte uns ein trauriges Lächeln zum Abschied, dann ging er hinaus und schloss die Tür leise hinter sich, als habe er uns eben zu Bett gebracht. Draußen hörten wir ihn ein paar Befehle erteilen und nahmen an, dass er einige seiner Männer beauftragt hatte, an der Tür Wache zu halten, wenngleich wir nicht heraushören konnten, wie viele.
    «Sie haben sich wahrscheinlich nicht vorstellen können, eine so universale Leserschaft zu haben», scherzte Murray, als wir allein waren.
    Wells konnte über die Bemerkung nicht lachen; keiner von uns, um die Wahrheit zu sagen. Stattdessen atmeten wir wie auf Kommando so tief ein, als wollten wir die Leistungsfähigkeit unserer Lungen an ihre Grenzen führen, und das gemeinsame Ausatmen danach klang wie ein gewaltiger Seufzer. Keine Frage; jeder von uns war sich der schwierigen Lage bewusst, in der wir uns befanden. Und jeder Leser wird leicht verstehen, dass wir alles verloren gaben. Wir waren eingeschlossen und warteten auf den Marsmenschen, der die Invasion offenbar leitete und von dem die anderen nur mit unterwürfiger Hochachtung sprachen. Wir wussten zwar nicht, warum er uns sehen wollte; aber es war klar, dass wir ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Wie würde er aussehen?, fragte ich mich und musste an die verwirrenden Beschreibungen denken, die meine Gefährten mir von den Marsmenschen gegeben hatten. Mir wurde jedoch schnell klar, dass dies eine fruchtlose Geistesanstrengung war, da er uns wahrscheinlich in Menschengestalt gegenübertreten würde. Und vielleicht ist dies der Moment zu gestehen, dass die Tatsache, dass alle Marsleute, die ich bislang gesehen hatte, in Menschengestalt aufgetreten waren, es mir unwahrscheinlich schwermachte, so viel Angst vor ihnen zu haben, wie es zweifellos angebracht gewesen wäre. Mit dem ganz normalen Aussehen eines x-beliebigen Zeitgenossen kamen mir diese Wesen aus dem All so gewöhnlich vor wie das Arbeitszimmer, aus

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