Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
sagen zu können, dass die menschliche Vorstellungskraft im Universum als einzigartig gilt», sagte dieselbe Stimme hinter unserem Rücken, «aber ich würde Sie belügen.»
    Wir alle fuhren herum und schauten zur Tür, unter der sich der Umriss eines Menschen abzeichnete. Meine Gefährten erschauerten bei dem Anblick wie ein Strauch, durch den ein Windhauch fährt, da ihnen allen klar war, dass dies nur der Gesandte sein konnte, der uns in menschlicher Gestalt entgegentrat, so wie ich es schon geahnt hatte.
    «Ich fürchte nur, Sie sind die Einzigen, die das so sehen», fuhr er fort, ohne sich jedoch von der Stelle zu rühren, «und das ist ganz logisch, da Sie keine Vergleichsmöglichkeiten haben. Aber das Universum ist von den unterschiedlichsten Rassen bevölkert, die Qualitäten haben, von denen die meisten außerhalb Ihrer Vorstellungskraft liegen. Und ich darf Ihnen versichern, dass die menschliche Phantasie verglichen damit kein so hohes Gut ist, dessen Verlust man bedauern müsste.»
    Da wir nicht wussten, was wir darauf antworten sollten, oder ob der Gesandte überhaupt eine Antwort von uns erwartete, schwiegen wir. Die Gestalt unter der Tür hatte sich nicht bewegt, doch glaubte ich erkennen zu können, dass die menschliche Erscheinungsform, die der Gesandte gewählt hatte, nicht viel hermachte, eigentlich eher mickrig wirkte. Ein Schwächling, genau besehen. Dennoch hatte er etwas Beunruhigendes für mich: Seine Stimme kam mir ausgesprochen bekannt vor.
    «Allerdings muss ich zugeben, dass Ihre Phantasie, Mister Wells, der des Durchschnittsmenschen weit überlegen ist», fuhr der Gesandte fort und trat ein paar Schritte vor ins Licht, sodass alle ihn sehen konnten. «Unsere Phantasie, sollte ich vielleicht sagen.»
    Verblüfft starrten wir auf die Erscheinung des Gesandten, die keine andere war als die von Mister Wells. Als wir ihn so vor uns stehen sahen, die Hände in den Hosentaschen und mit demselben leutselig skeptischen Lächeln im Gesicht, wie es der Schriftsteller gewöhnlich zeigte, verschlug es uns die Sprache. Natürlich war unsere Verblüffung nicht mit der des echten Wells zu vergleichen. Der Schriftsteller starrte seinen Doppelgänger stumm, bleich, mit hervorquellenden Augen an, und seine Fassungslosigkeit war völlig gerechtfertigt, wie der Leser begreifen wird, denn er sah sich ja selbst, ohne Spiegel, räumlich, wie Spiegel es gar nicht erlauben. Er sah sich einen Platz einnehmen, einen Raum ausfüllen, sich bewegen, sogar sprechen. Er sah sich zum ersten Mal im Leben so, wie andere Menschen ihn sahen. Er sah sich so, wie kein Mensch je das Privileg gehabt hat, sich selbst zu sehen.
    Die Reaktion des Schriftstellers brachte den Doppelgänger zum Lachen.
    «Ich kann mir vorstellen, dass Sie nicht erwartet haben, mich in Gestalt von Mister Wells hier zu sehen, zumal er ja noch am Leben ist.» Der Gesandte musterte uns spöttisch. «Es war auch für mich überraschend, dass der Mann, dessen Aussehen ich angenommen hatte, mich sehen wollte, und darum bin ich hergekommen, in unser bescheidenes Refugium in den Kloaken von London.» Der Gesandte strich sich über das Bärtchen, wie der echte Wells es auch manchmal tat. «Wenn ich bescheidenes Refugium sage, will ich dieses Tunnelsystem, das parallel zur echten Kanalisation besteht und von unseren Brüdern errichtet worden ist, die sich unter die Arbeiter und Ingenieure jener Zeit gemischt haben, nicht herabwürdigen. Es ist eine ganze eigene Welt, versteckt hinter der anderen Welt des unterirdischen London. Als wäre Ihre bezaubernde Alice dem Kaninchen zweimal gefolgt … Eine Art Spiegel hinter dem Spiegel, finden Sie nicht? Sie, die Menschenwesen, lieben doch solche Bilder und Gedankenspiele.»
    Wells starrte ihn immer noch entgeistert an und schien gleich ohnmächtig werden zu wollen.
    «Wie …, was?», stammelte er.
    Die Frage schien seinen Doppelgänger an etwas zu erinnern.
    «Oh, verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, Mister Wells. Natürlich wollen Sie wissen, wieso ich Ihre Gestalt angenommen habe», sagte er, sich wieder das Bärtchen streichend. «Nun, ich will es Ihnen erklären. Sie wissen ja inzwischen wohl, dass wir imstande sind, die Gestalt aller möglichen Lebewesen anzunehmen. Dank dieser Fähigkeit haben wir all die Jahre unerkannt unter Ihnen leben können. Abgesehen von der Geburt zeigen wir nur noch im Tod unser wahres Aussehen. Ja, der Tod entreißt uns unsere Verkleidung, deshalb haben unsere Vorfahren auch hier unten

Weitere Kostenlose Bücher