Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
das wütende Gebrüll des Monsters an unser Ohr. Ich warf einen Blick über die rechte Schulter und sah die monströse Gestalt des Gesandten durch die Tür seines Arbeitszimmers brechen. Trotz der funzeligen Lampen und des immer noch wabernden Qualms konnte ich erkennen, das sein Aussehen wirklich grauenerregend war. Die Bestie, die nun hinter uns her hetzte, ähnelte den Drachen mittelalterlicher Legenden. Die Haut war mit grünlich schimmernden Schuppen bedeckt, der Rücken mit Stacheln gespickt, und zwischen den Reißzähnen im weit aufgerissenen Rachen troff blutiger Schaum.
    «Lauft! Lauft!», rief ich verzweifelt und schaute wieder nach vorn.
    «Lauft!», hörte ich wie ein Echo Clayton rufen, der mich zu meiner großen Verwunderung in diesem Moment links überholte.
    «Was zum Teufel …!», japste ich, als wir die Abzweigung nahmen, in die die anderen vor uns eingebogen waren. «Agent Clayton! Was ist mit der Explosion?»
    «Ich habe einen besseren Plan, Mister Winslow! Aber dafür brauche ich die Mitarbeit von Mister Wells. Um die hätte ich ihn kaum bitten können, wenn ich da drinnen gestorben wäre; es sei denn über ein Quija-Brett.»
    Wells und Murray, die vor uns liefen, drehten verwirrt die Köpfe, als sie den Agenten hörten.
    «Meine Mitarbeit?», keuchte Wells mit großen roten Flecken auf den Wangen. «Und Sie halten dies für den geeigneten Moment, mich darum zu bitten?»
    «Tut mir leid, dass es mir nicht früher eingefallen ist, Mister Wells!», erwiderte der Agent, der mit aufgerichtetem Oberkörper lief und seine langen Beine mühelos zu bewegen schien.
    «Da werden Sie wohl noch etwas warten müssen, Agent Clayton. Sie sehen sicher ein, dass wir jetzt schlecht stehen bleiben können», rief Murray über die Schulter. Er lief auf noch seltsamere Weise, mit weit vorgebeugtem Oberkörper und die Hände über dem Bauch gefaltet. «Schneller! Schneller!», trieb er die vor ihm laufenden Frauen an. «Und nicht umdrehen!»
    Die Worte genügten, um mich automatisch den Kopf drehen zu lassen. Die Kreatur war nur noch gut dreißig Meter hinter uns, gefolgt von dem zweiten Wächter, der sich auch in ein drachenähnliches Ungeheuer zu verwandeln begann, während sie in gewaltigen Sätzen hinter uns herhetzten. Ein Jammer, dass Shackleton nicht genauso drastisch zu Werke gegangen war wie Murray, als er sich den Marsmann vorgenommen hatte. Unsere Lage kam mir bedenklich vor, um es vorsichtig auszudrücken, denn lange konnte es nicht mehr dauern, bis diese Kreaturen uns erreichten. Würden wir in ihren Klauen sterben, wie Harold gestorben war? Einen schrecklicheren Tod konnte ich mir nicht vorstellen. Nach der nächsten Abbiegung gelangten wir auf eine Art Kreuzung, von der vier Gänge abzweigten. Keuchend standen wir in der Mitte und schauten ratlos auf den Hauptmann; erwarteten, dass er uns sagte, welchen Tunnel wir nehmen sollten. Aber Shackleton schien genauso verwirrt wie wir alle.
    Da hörten wir plötzlich eine Stimme:
    «Hier entlang!»
    Im dunklen Eingang eines der Tunnel erkannten wir den Mann mit dem Priesterkragen, der uns zu sich winkte. Wir wechselten fragende Blicke, weil wir nicht wussten, ob wir ihm trauen konnten oder ob er uns in eine Falle locken wollte. Aber welche Falle konnte schlimmer sein, als dem Gesandten in die Klauen zu geraten! Darüber hinaus hatten wir auch keine Zeit, die Sache zu diskutieren. Die stampfenden Schritte unserer Verfolger kamen immer näher, ihre unförmigen Schatten tanzten schon an einer Wand und verrieten uns, dass sie jeden Moment um die Ecke kommen konnten.
    «Mir nach!», rief Shackleton entschlossen und stürzte sich in den Tunnel, den der Priester uns gezeigt hatte. Wir anderen folgten ihm, mochte es nun eine Falle sein oder nicht.
    «Folgen Sie diesem Tunnel», hörte ich den Priester sagen, als ich an ihm vorbeilief. «Schnell. Sie dürfen keine Zeit verlieren! Er führt Sie direkt zum Fluss, und Sie werden niemandem begegnen, das habe ich überprüft. Ich werde die anderen aufhalten», murmelte er und wandte sich ab.
    «Warum tun Sie das?», fragte ich ungläubig und zwang mich, neben ihm stehen zu bleiben.
    Er sah mich nicht an, doch sein Gesicht erstrahlte plötzlich in einer Art himmlischer Erleuchtung, als er antwortete:
    «Ich bin Vater Gerome Brenner, und ich erinnere mich nicht, je etwas anderes gewesen zu sein. Ich war schon alt, als ich geboren wurde, und ich bin jetzt zu alt, um mich noch zu ändern … Geh in Frieden, mein Sohn. Geh in

Weitere Kostenlose Bücher