Die Landkarte des Himmels

getan, und für Sie, meine Liebe, werde ich es noch einmal tun. Ich werde zu Ihnen zurückkehren. Sie werden meine Umarmungen fühlen, mein Lächeln sehen, erleben, wie ich jede Sekunde Ihres Lebens für Sie sorge …»
    Doch seine Worten führten nur dazu, dass Emma sich noch fester an den Sterbenden klammerte. Murray bedachte uns mit einem flehenden Blick. Er hatte es versucht, aber er hatte sie nicht überzeugen können. Er schaute jeden von uns an, doch keiner traute sich, den Schritt zu tun und die junge Dame mit Gewalt von ihm fortzureißen. Clayton behielt den Tunnel im Auge, durch den die Bestien herangestapft kamen. Ich schätzte, dass er uns noch zwei oder drei Minuten gab. Dann sank er zu unserer Überraschung vor Emma auf die Knie.
    «Miss Harlow», sagte er sanft, «erlauben Sie mir die Bemerkung, dass das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht nur eine Metapher ist. Wie Sie wissen, ist meine Abteilung für all die Dinge zuständig, die mit dem menschlichen Verstand nicht zu begreifen sind. Glauben Sie mir also bitte, dass es tatsächlich Fälle gibt, in denen das, was Mister Murray gesagt hat, Wirklichkeit geworden ist. Manchmal ist die Liebe tatsächlich stärker als der Tod.»
    «Wären Sie einmal verliebt gewesen, Agent Clayton, wüssten Sie, dass das kein Trost für mich ist», sagte sie gereizt. «Also gehen Sie zum Teufel, bei allem Respekt.»
    Clayton schaute sie an, und in seinem Blick lagen Trauer und Verletztheit; ein beinahe menschlicher Ausdruck, den ich bei einem wie ihm gar nicht für möglich gehalten hätte. Ich wusste nicht, ob er die Wahrheit gesagt hatte und Fälle kannte, in denen die Liebe den Tod überwunden hatte, oder ob ihm bloß nichts anderes eingefallen war, um die amerikanische Lady zu überzeugen, mit uns zu fliehen; eine hübsche Lüge, mit der er ihr das Leben hatte retten wollen. Wie auch immer, Emma zeigte sich nicht beeindruckt. Da erhob sich Clayton und schaute auf Murray hinunter, als wolle er ihn um Erlaubnis bitten, die junge Dame jetzt, da alle anderen Mittel erschöpft waren, mit Gewalt zur Vernunft zu bringen. Doch der Unternehmer schüttelte unmerklich den Kopf und schlang mit den letzten ihm verbleibenden Kräften seine Arme um das Mädchen. Damit war alles gesagt.
    Und dann, als wären wir anderen gar nicht anwesend, begann Murray der Geliebten etwas ins Ohr zu summen, das sich wie ein Wiegenlied anhörte; und obzwar wir die Worte nicht verstanden, sahen wir doch, wie Emma zu schluchzen aufhörte und sich entspannte. Mit dem Kopf an seiner Brust lächelte sie verträumt und gab sich ganz der summenden Stimme hin, so wie ein Kind die heranstürmenden Drachen vergisst und sich in den Schlaf singen lässt. Und wenn man genau hinhörte, war es genau das: ein Schlaflied, welches mir als Kind nie vorgesungen worden war und das von bunten Luftballons handelte, die durch zuckerwattige Wolken schwebten, von Reihern in rötlichem Federkleid und winzigen Männern mit gegabelten Schwänzen.
    Clayton nickte uns feierlich zu, als wäre dies das Finale eines von ihm geschriebenen Werkes.
    «Wir müssen weiter», drängte er uns. «Wenn es zur Explosion kommt, müssen wir so weit wie möglich entfernt sein.»
    Ohne eine Antwort oder Reaktion abzuwarten, stürmte er los. Wir anderen folgten ihm mit einem Klumpen im Magen. Und während ich von Gefühlen überwältigt durch die Kloaken von London rannte, sah ich über die Schulter zurückblickend die beiden Liebenden eng umschlungen in der Mitte des Tunnels, Claytons falsche Hand zwischen sich, mit jedem Schritt kleiner werden. Und genau in dem Augenblick, als ich die riesigen Schatten der Ungeheuer hinter ihnen auftauchen sah, fanden die beiden Liebenden zu einem langen, innigen Kuss, als hätten sie alle Zeit der Welt, sich zu küssen, als gäbe es nichts Wichtigeres für sie als die Lippen des anderen. Und das Aufeinandertreffen ihrer Lippen bewirkte, dass ihre Herzen in einem blendend weißen Lichtblitz explodierten, und ein Donnergetöse erfüllte den ganzen Tunnel.
    Ich finde kein Bild, das die Liebe dieser beiden Menschen besser illustriert als dieser gleißende Blitz und tosende Donner. Zwei Jahre sind vergangen, seit sich dieses Bild unauslöschlich in meine Augen eingebrannt hat, und ich bin stolz, die Liebe dieser beiden – obwohl sie zärtlich umschlungen in den Kloaken von London den Tod gefunden haben – lebendig zu halten, indem ich an sie erinnere und sie jetzt, da ich sterbe, diesem Stück Papier anvertraue in der