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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Frieden.» Dann trat er zwei Schritte vor, stellte sich – mir den Rücken zukehrend – mitten in den Tunneleingang und erhob seine Stimme wie zum Gebet: «Ein Dieb kommt nur, dass er stehle, würge und töte. Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für seine Schafe.»
    Clayton riss mich am Ärmel mit sich fort und rief dem Priester ein knappes «Danke, Vater!» zu. Ich trabte mit rückwärts gewandtem Kopf hinter Clayton her und sah den alten Mann wie ein zerbrechliches Bäumchen im Eingang des Tunnels stehen und seine Psalmen singen. Dann breitete er seelenruhig seine Arme aus, deren Hände zu scharfen Klauen wurden als ersten Anzeichen auf die nun einsetzende Verwandlung. Jetzt sprangen aus dem anderen Tunnel zwei riesige Gestalten hervor, die seine Brüder waren. Mehr wollte ich nicht sehen. Ich schaute wieder nach vorn und folgte meinen Gefährten, platschte durch das Wasser, das in der Mitte des Tunnels floss. Hinter uns hörten wir unmenschliches, ohrenbetäubendes Gebrüll, das durch die Tunnel hallte und den Beginn des tödlichen Kampfes zwischen jenen Kreaturen aus dem All verkündete. Minutenlang rannten wir wortlos und so schnell wir konnten, während der Kampflärm in unserem Rücken leiser wurde und schließlich verstummte. Wir konnten nicht wissen, wie der Kampf ausgehen würde; aber ich glaube, keiner von uns hätte auf den Priester gesetzt.
    Murray schien plötzlich zu stolpern, hielt unentschlossen inne und stützte sich mit einer Hand an der Mauer ab. Auch wir anderen blieben stehen und drehten uns zu ihm um.
    «Gilliam, was ist los?», fragte Wells nach Atem ringend.
    «Laufen Sie weiter …, ich hole Sie gleich ein … Ich brauche bloß eine kleine Verschnaufpause», keuchte Murray, der schrecklich blass aussah und mit zusammengepressten Lippen zu lächeln versuchte, während er gekrümmt dastand und sich mit einer Hand den Bauch hielt.
    «Sie sind verrückt, Gilliam! Sie glauben doch nicht, dass wir ohne Sie gehen», sagte Emma und schaute ihn besorgt an. «Was haben Sie denn?»
    «Nichts, Emma. Mir geht es gut. Ich muss nur ein wenig ausruhen …», begann er, dann versagte seine Stimme, und seine Kräfte gaben nach. Mit beiden Händen seinen Bauch haltend, sank er auf die Knie.
    Er schaute zu uns auf, als wollte er uns um Verzeihung bitten, doch dann begann er zu unserer Überraschung seine Jacke aufzuknöpfen. Da sahen wir den tiefen, blutigen Riss quer über seinem Bauch, während er uns verschämt anlächelte, als ob er sich die Weste mit Wein bekleckert hätte. Emma schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. In der furchtbaren Wunde waren blutige Wülste zu erkennen, die nur Teile seiner Eingeweide sein konnten. Die Wunde blutete stark und hatte den ganzen oberen Teil seiner Hose durchtränkt. Wie hatte er in seinem Zustand bloß die ganze Zeit rennen können?, fragte ich mich. Nur jemand mit einem übermächtigen Lebenswillen konnte das schaffen.
    «Unglücklicherweise konnte dieser Marsmensch noch eine Kralle ausfahren, bevor ich ihm den Hals umgedreht habe», flüsterte er entschuldigend, den erlöschenden Blick auf Emma gerichtet. «Ich wollte mir die Wunde nicht früher ansehen …, ich wollte Sie nicht allein lassen, Emma. Es tut mir leid.»
    Emma fiel neben ihm auf die Knie und starrte entsetzt auf den brutalen Riss in Murrays Bauchdecke, weigerte sich, zu glauben, dass er Wirklichkeit war. Ihre Hände flatterten unentschlossen über die riesige Wunde, aus der die Eingeweide hervorquollen. Dann legte sie sie auf die Wunde, als wollte sie sie verschließen; als glaubte sie, mit dieser schlichten Geste Murray dazu bringen zu können, die unpassende Idee mit dem Sterben aufzugeben. Doch das Leben des Unternehmers begann in Form von roten Blutfäden zwischen ihren Fingern zu zerrinnen. Emma stieß einen animalischen Klagelaut aus, der aber auch ein Laut hilfloser Wut war. Dann umarmte sie Murray, wie ich noch nie jemand einen Menschen habe umarmen sehen.
    «Nein, Gilliam, sterben Sie nicht … Sie dürfen nicht sterben …», schluchzte sie und trommelte wütend auf seine Brust. Sie hätte ihn umgebracht, wenn sie ihn dadurch hätte ins Leben zurückholen können.
    Aus der Ferne drang jetzt ein Triumphgebrüll an unser Ohr, dass uns das Blut in den Adern gefror. Sekunden später hörten wir das ohrenbetäubende Stampfen schwerer Schritte, die sich in gewaltigen Sprüngen näherten. Man musste nicht besonders intelligent sein, um zu wissen,

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