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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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schauten Wells erstaunt an, doch der Schriftsteller schwieg. Er betrachtete den Gesandten nur nachdenklich, und einen Moment lang sahen die beiden wie Spiegelbilder aus.
    «Ja, Mister Wells», fuhr der Gesandte fort, «Sie haben das Privileg, mir Furcht einzuflößen; mir, einem den Menschen in allen Bereichen endlos überlegenen Wesen. Und wollen Sie wissen, warum das so ist? Weil ich nicht nur das Aussehen dessen imitiere, dessen Blut ich mir einverleibe, sondern auch seinen Geist und alles, was sich sonst in diesem armseligen Behältnis namens Mensch befindet: Erinnerungen, Fähigkeiten, Träume, Wünsche … Ich imitiere das Original in allen Bereichen. Deswegen genügt mir ein kurzer Blick in Ihre Gehirnwindungen, um Ihre Kindheit besser zu kennen als Sie selbst; um das schale Gefühl zu entdecken, das Sie – als Liebe verkleidet – Ihrer Frau entgegenbringen; um über Ihre verborgensten Wünsche zu stolpern; um wie Sie zu argumentieren und sogar genauso zu schreiben … Weil ich Sie bin, mit allem, was Sie sind, mit Ihrer ganzen Größe und Ihrer ganzen Erbärmlichkeit. Und das Gehirn in meinem Schädel ist identisch mit Ihrem, und es verfügt über denselben Mechanismus, den ich eben erwähnt habe. Aber ich weiß nicht, wozu er dient, und das ängstigt mich. Wie soll ich es Ihnen erklären? Stellen Sie sich vor, Sie sezieren eine simple Küchenschabe und entdecken in ihrem Innern etwas völlig Fremdes und Unbegreifliches. Würde Sie das nicht mit Angst erfüllen, mit Entsetzen?»
    «Ich weiß nicht, ob ich das als Beleidigung oder als Kompliment auffassen soll», scherzte Wells mit eisiger Gelassenheit.
    Der Gesandte lächelte betrübt.
    «Besagter Mechanismus könnte dazu dienen, die Tomaten in Ihrem Gewächshaus schneller wachsen zu lassen, oder dazu, unser Volk zu vernichten; ich weiß es nicht.» Er stieß einen müden Seufzer aus. «Aber das ist es gar nicht, was mich beunruhigt, Mister Wells; sondern das, was dies alles bedeutet. In Ihrem Kopf befindet sich etwas, das keine andere Spezies im ganzen Universum besitzt. Etwas uns Unbekanntes; und wir glaubten, alles zu kennen. Das heißt, das Universum ist nicht so, wie wir geglaubt haben; es enthält Geheimnisse, die wir noch nicht entschlüsselt haben … Geheimnisse, die uns möglicherweise vernichten können. Ich weiß nicht, ob ein Mensch ermessen kann, was das bedeutet … in Anbetracht Ihrer Stellung im Universum verglichen mit unserer.» Der Gesandte schwieg nachdenklich, schließlich zuckte er die Achseln und sagte: «Vielleicht bin ich nur überbesorgt. Jetzt, da ich sehe, dass Sie die Invasion überlebt haben, wird sich alles aufklären. Sobald unser Volk auf der Erde eingetroffen ist, werden unsere Wissenschaftler Ihr Gehirn sezieren und des Rätsels Lösung finden. Wir werden wissen, was in Ihrem Kopf vorgeht, Mister Wells, und dann werden wir vielleicht keine Angst mehr haben müssen.»
    Wells wurde bleich, und der Gesandte musterte einen nach dem anderen von uns wie ein General, der seine Truppe inspiziert.
    «Was Sie Übrigen angeht, stelle ich mit Befriedigung fest, dass Sie alle gesund und kräftig sind; solche Sklaven brauchen wir, um eine schöne neue Welt auf den Ruinen der alten zu errichten.»
    «Dann bedauere ich, Ihre Pläne zunichte machen zu müssen», stieß Clayton plötzlich hervor.
    Mit einem Schauder des Entsetzens begriffen wir, dass unser irrwitziger Fluchtplan jetzt in die Tat umgesetzt würde, und wir spannten uns alle an, um unseren Teil dieses Plans so gut wie möglich durchzuführen. Clayton hob seine Eisenhand, als wollte er eine auf ihn zurasende Lokomotive anhalten, und eine Sekunde später ergoss sich ein Rauchschwall direkt über den Gesandten und ließ ihn hinter einem wogenden Nebelvorhang verschwinden.
    «Schnell, nichts wie raus hier!», rief uns Clayton über die Schulter zu.
    Wie von einer Feder geschnellt, stürzten wir alle zum Ausgang, Shackleton voran, gefolgt von Murray, der mit seinem gewaltigen Körperbau die Damen schützte, und dahinter Wells, Harold und ich, die wir uns – jeder aus einem anderen Grund – bei diesem überraschenden Gegenangriff mit Statistenrollen zufriedenzugeben hatten: der Erste wegen seiner schwachen Konstitution, der Zweite aufgrund seines Alters und ich wegen meines ausgeprägten Überlebensinstinkts, der mich – außer bei meinen Fechtstunden – stets jeden körperlichen Kontakt hatte meiden lassen.
    Unseligerweise beging ich den Fehler, einen Blick über die

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