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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Schulter zurückzuwerfen, und so sah ich durch die Nebelwand, wie der Gesandte sich zu verwandeln begann. Der Anblick lähmte mich, als wäre ich verhext worden. Überwältigt und fasziniert sah ich, wie die Silhouette des falschen Wells in die Höhe wuchs und sich unter Zuckungen verformte. In wenigen Sekunden war aus ihm eine vierfüßige Bestie von der Größe eines Elefanten geworden, die einen kräftigen langen Schwanz besaß. Ein dröhnendes, schauerlich klingendes Gebrüll zeigte mir an, dass sie auch über einen gewaltigen Rachen verfügte. Und während ich noch gebannt dieser grotesken Metamorphose zuschaute, sah ich den mit grünen Schuppen und dicken Stacheln bedeckten Schwanz der Kreatur wie ein Peitsche durch den jetzt das ganze Zimmer erfüllenden Qualm auf und nieder zischen. Blind nach einem Ziel suchend, traf er Clayton und schleuderte ihn zu Boden. Dann züngelte er zu mir heran. Ich war so hypnotisiert, dass ich nicht einmal reagieren konnte. Das Ende des Schwanzes wand sich blitzschnell um meinen Hals, und noch bevor ich etwas begriff, fühlte ich mich in die Höhe gehoben. Mein Hals wurde so zusammengepresst, dass ich kaum noch Luft bekam und mein Blick sich verschleierte. Wild in der Luft strampelnd, versuchte ich mich von dem würgenden Tentakel zu befreien, merkte jedoch schnell, dass meine Kräfte dazu bei weitem nicht reichten. Voller Entsetzen begriff ich, dass ich ersticken würde. Doch bevor dies geschehen konnte, sah ich Harold in einem Augenwinkel auftauchen. Er schwang den Brieföffner, der eben noch auf dem Schreibtisch gelegen hatte. Mit einem Hieb, in den er seine ganze Kraft legte, schlug er ihn der Bestie in den Schwanz, der daraufhin erschlaffte und mich freigab, sodass ich wie ein Mehlsack auf die Erde plumpste. Benommen und nach Luft japsend sah ich jedoch, wie sich das Schwanzende jetzt um den Hals des Kutschers wand. Der Druck wurde offenbar so stark, dass er den Brieföffner fallen ließ. Ich versuchte, auf die Beine zu kommen, ihn zu ergreifen und Harolds Heldentat zu wiederholen, doch mir wurde übel. Ich konnte nur noch mit ansehen, wie Harold fortgezogen wurde und im Nebel verschwand. Dann vernahm ich ein Knacken von brechenden Knochen, gefolgt von einem erstickten Schrei, danach keinen weiteren Laut. Der Mann hatte meinetwegen sein Leben gelassen; für jemand, der seines Opfers ganz offensichtlich nicht würdig war. Ich schaute mich um, konnte in dem wogenden Qualm aber nicht sehen, wo Clayton hingeschleudert worden war, und wusste daher nicht, ob er bewusstlos am Boden lag und wir somit dem Ungeheuer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren oder ob jeden Moment ein Flämmchen im Nebel aufflackern und mir anzeigen würde, dass der Agent seinen Plan in die Tat umgesetzt hatte und wir in der nächsten Sekunde allesamt in die Luft fliegen würden.
    Was es auch war, ich blieb nicht, um es herauszufinden.
    Meinen ganzen Willen zusammennehmend, versuchte ich, mein Übelkeitsgefühl zu überwinden und auf die Beine zu kommen, und als mir dies gelungen war, stolperte ich durch die wabernden Nebelfetzen nach draußen. Es war, als platzte ich mitten in eine Theateraufführung hinein: Hauptmann Shackleton schlug gerade einen der die Tür bewachenden Marsmenschen mit gezieltem Kinnhaken zu Boden, während sich einige Schritte entfernt Murray auf den anderen geworfen hatte und ihn mit seinem schweren Körper zu Boden drückte. Nun rangen sie verzweifelt miteinander und schlugen erbarmungslos aufeinander ein. Noch bevor der Marsmensch sich verwandeln konnte, gelang es Murray, dessen Kopf anzuheben und mit einem gewaltigen Ruck herumzureißen. Das Knacken des brechenden Genicks hallte von den Wänden wider. Uns den Rücken zukehrend, kam Murray keuchend und taumelnd auf die Füße. Wells und die beiden Frauen drückten sich an die Wand und starrten bleich und erschüttert auf diesen Ausbruch haarsträubender Gewalt. Mit einem Blick überzeugte ich mich, dass es keine weiteren Wachen gab, und schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass der Mann mit dem Priesterkragen es nicht für nötig befunden hatte, mehr als zwei seiner Artgenossen die Tür bewachen zu lassen.
    «Rasch!», rief ich. «Wir müssen hier verschwinden!»
    Mit Shackleton wieder an der Spitze stürzten wir in den Tunnel, durch den wir gekommen waren, und rechneten jede Sekunde damit, von der gewaltigen Explosion, die Clayton auslösen würde, umgerissen und gegen die Mauern geschleudert zu werden. Stattdessen dröhnte jetzt

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