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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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welches das riesige Rundbecken umgab, worein sich das Abwasser aus mindestens einem Dutzend Röhren ergoss. Mehrere Meter über mir sah ich aus dem Tunnel, der uns ausgespien hatte, die stinkende Brühe einem Wasserfall gleich in das Auffangbecken hinunterrauschen. In dessen Mitte zeigte ein gewaltiger, sich trichterförmig vertiefender Strudel das unterirdische Hauptrohr an, durch das die Unratsfluten in die Themse geleitet wurden. Doch kein Mensch würde wohl so lange die Luft anhalten können, um die Flucht auf diesem Wege zu wagen. Dafür, kalkulierte ich, würde man mindestens fünfzehn oder zwanzig Minuten benötigen. Wenn das der Plan des Priesters vom Mars gewesen war, hatte er die Kapazität unserer Lungen hoffnungslos überschätzt.
    Neben mir hustete Jane, sie war immer noch halb bewusstlos, obwohl sie den Sturz unverletzt überstanden hatte, weil mein Körper den furchtbaren Aufprall für sie abgefangen hatte. Ich sah, dass Shackleton in das Auffangbecken gestürzt war. Er schien ebenfalls unverletzt zu sein, und obwohl der gewaltige Sog ihn nach unten zu ziehen drohte, versuchte er mit kräftigen Schwimmzügen den Rand zu erreichen, wo Rundeisen in das Mauerwerk eingelassen waren und eine Leiter bildeten. Seine kraftvollen Bewegungen zeigten mir, dass er den Kampf gegen den tödlichen Mahlstrom gewinnen würde, und so wandte ich meinen Blick ab, um nach den anderen zu suchen. Nur wenige Schritte entfernt entdeckte ich Clayton, der seine Beine am Geländer verhakt hatte und mit seiner einen Hand den Schriftsteller festhielt, der strampelnd über dem Abgrund hing. Mir war sofort klar, dass Wells verloren wäre, wenn er abstürzte, da seine Kräfte niemals ausreichen würden, gegen den Sog zu schwimmen.
    «Halten Sie durch, Clayton!», rief ich und richtete mich mühsam auf, um zu ihm zu gelangen und ihm zu helfen, den Schriftsteller hochzuziehen.
    Während ich mich zu ihm schleppte, so schnell mein zerschundener Leib es zuließ, und den brennenden Schmerz meiner gebrochenen Rippen zu ignorieren versuchte, sah ich, wie Clayton dem Schriftsteller etwas zurief, was Wells über dem Rauschen des Wassers aber wohl nicht hörte. Der Hauptmann hatte inzwischen den Rand des Beckens erreicht, war an den Wandhaken nach oben bis ans Geländer geklettert und hangelte sich nun daran entlang auf die Stelle zu, wo Wells und Clayton hingen. Ich war ihnen jedoch näher als Shackleton.
    «Halten Sie durch, ich bin gleich bei Ihnen!», rief ich, nur noch einen guten Meter von ihnen entfernt und mit zusammengebissenen Zähnen gegen eine Ohnmacht kämpfend.
    Keiner von ihnen hörte mich jedoch, da beide damit beschäftigt waren, einander selbst irgendetwas zuzuschreien. Als ich herankam, verstand ich die Worte, die Clayton in diesem Moment Wells zurief. Sein Hals war vor Anstrengung geschwollen, und die Adern traten wie Stricke hervor.
    «Tun Sie es!», hörte ich ihn rufen. «Sie können es! Vertrauen Sie mir! Sie sind der Einzige, der uns retten kann!»
    Ich verstand nicht, was er meinte, und schrie meinerseits:
    «Geben Sie mir Ihre Hand, Wells!» Ich streckte ihm meinen Arm entgegen, während ich mit dem anderen das Geländer umklammerte.
    Clayton wandte den Kopf und lächelte mir zu; sein Gesicht war schweißüberströmt. Dann verdrehte er die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, ließ Wells los und wurde ohnmächtig. Ich konnte ihn nicht mehr erwischen und sah die beiden Männer ins Becken stürzen. Sie fielen mindestens zwölf Meter, bis sie aufs Wasser aufschlugen. Der Hauptmann, der sich auf der anderen Seite des Geländers herangehangelt hatte, ließ sich ebenfalls fallen und konnte Clayton ergreifen, bevor dieser unterging. Mir war sogleich klar, dass er den Schriftsteller nicht mehr retten konnte, sodass ich ungeachtet der Gefahr, durch den Aufprall aufs Wasser die Besinnung zu verlieren, das Geländer gleichfalls losließ und mich in die stinkenden Fluten stürzte. Der Schmerz in meinen Rippen brannte zwar wie Feuer, aber ich wurde nicht ohnmächtig. Verzweifelt tauchte ich in der dickflüssigen Brühe nach da und nach dort, unablässig gegen den furchtbaren Sog ankämpfend, der mich in die Tiefe zu ziehen drohte. Ich versuchte, Wells’ Körper zu ertasten, weil ihn zu sehen völlig unmöglich war. Als meine Lungen zu platzen drohten, tauchte ich prustend auf und spürte sofort, wie sich etwas um meinen Hals schlang und mich aus dem Wasser hob.
    Das war das Ende unserer Flucht. Als der Schwanz eines der

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