Die Landkarte des Himmels
Monster mich aus dem Wasser riss und am Rand des Beckens zu Boden fallen ließ, wo meine Gefährten schon lagen, begriff ich, dass wir Gefangene waren. Der Gesandte stand wieder in Gestalt von Wells vor uns, woraus wir schließen mussten, dass Claytons Bombenhand wohl nur einige seiner Brüder, die an der Spitze gelaufen waren, ins Jenseits befördert hatte.
Zwei Jahre später stehen mir immer noch die niedergeschlagenen Blicke vor Augen, die wir keuchend und schluchzend wechselten, Blicke voller Angst vor dem, was auf uns zukommen würde; eine Angst, wie ich heute weiß, die völlig unzureichend, ja beinahe lächerlich war im Vergleich zu dem, was uns tatsächlich erwartete. Am deutlichsten aber erinnere ich mich an die verzweifelten Schreie von Jane, die unaufhörlich Wells’ Namen rief, immer wieder, bis ihre Stimmbänder versagten. Ihre Schreie wurden nur übertroffen vom wütenden Gebrüll des Gesandten, als seine Brüder, die das ganze Becken abgesucht hatten, wieder auftauchten und ihm berichteten, nirgends die geringste Spur des Schriftstellers gefunden zu haben. So war ihm seine wertvollste Kakerlake entwischt und hatte ihr Geheimnis mit sich genommen. Und das machte das Universum für ihn zu einem unermesslichen Raum, in dem alles Mögliche passieren konnte. Ich weiß auch heute noch nicht, was aus Wells geworden ist. Ich nehme an, dass er durch den Aufprall aufs Wasser ohnmächtig geworden und ertrunken und später irgendwo in die Themse gespült worden ist. Wenn dies sein Ende war, so ist es – obwohl man es kaum glauben mag – das Beste, was ihm passieren konnte.
In diesem Moment erstirbt die Sonne hinter den Ruinen Londons, hinter den unheimlichen Baumdickichten, die unser Lager umgeben, und ich beende in meiner Zelle dieses Tagebuch, einige Stunden, bevor ich auch mein Leben beenden werde, denn der morgige Tag wird zweifellos mein letzter sein. Jeden Augenblick kann mein Körper versagen oder meine Seele zerbrechen unter der Last der Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit, die ich ihr zugemutet habe.
Zum Glück habe ich meinen Bericht abschließen können, und mir bleibt eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Obwohl ich nicht der Held dieser Geschichte geworden bin, hoffe ich, für den Leser dieser Seiten – wer immer das ist – wenigstens ein unterhaltsamer Troubadour gewesen zu sein. Mehr kann ich nicht erwarten. Mein Leben endet hier; ein Leben, das ich lieber auf andere Weise verbracht hätte. Doch für bessere Vorsätze ist es jetzt zu spät. Ich kann nichts anderes mehr tun, als hier mein aufrichtiges und viel zu spätes Bedauern ausdrücken.
Von meiner Zelle aus sehe ich die Nacht über die Marspyramide herabsinken; dieses Bauwerk, das besser als jede Fahne die Eroberung unserer Welt symbolisiert. Der Welt, die einst den Menschen gehörte. Jede Erinnerung daran wird ausgelöscht sein, wenn der letzte Mensch sein Leben aushaucht, was sicher bald der Fall sein wird.
Und das ist etwas, das ich am Ende wohl akzeptiert, aber nicht wirklich begriffen habe.
Charles Leonard Winslow
vorbildlicher Gefangener
des Marscamps von Lewisham
XXXVII
Obwohl er bei Sonnenaufgang noch am Leben war, hatte er sich das Tagebuch in die Hose gesteckt, als sie in die Pyramide geschickt wurden, da er überzeugt war, dies werde sein letzter Tag auf Erden sein. Die ganze Nacht hatte er zitternd und fiebernd auf seinem Strohsack gelegen, von Krämpfen geschüttelt, dass er glaubte, sie würden ihn auseinanderreißen. In diesem Zustand hatte er den neuen Arbeitstag unter den neugierigen Blicken der Marsmenschen überstanden, die wahrscheinlich nur darauf gewartet hatten, ihn zusammenbrechen zu sehen. Doch zu seiner eigenen Überraschung hatte er sich auf den Beinen gehalten, hatte ein Fass nach dem anderen durch den Tunnel gerollt und sich ermahnt, noch eine Kraftreserve aufzusparen, um das Tagebuch verstecken zu können.
Als er gegen Abend mehr tot als lebendig wieder an die Oberfläche kam, wankte er zu den Verpflegungsautomaten, wo schon andere Gefangene darauf warteten, die zweite Ration des Tages zu empfangen, bevor sie in ihre Zellen zurückkehrten. Charles ließ sie stehen, ging an ihnen vorbei, bis er sich außerhalb ihres Blickfeldes befand, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der er die unsichtbare Linie vermutete, auf die das Halsband der Gefangenen reagierte. Dort grub er mit zitternden Händen eine flache Mulde, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihm niemand zuschaute,
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