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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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angenommen hatte, oder es bei nächster Gelegenheit kaltblütig umzubringen – vielleicht indem er dem Matrosen eine Stange Dynamit in die Hose steckte, während dieser schlief – und sich dann mit jenem Argument in dem Prozess zu verteidigen, den man ihm zweifellos machen würde, wenn man sein Verbrechen entdeckte, schienen ihm nur die schnellsten Wege zu sein, um als unheilbar verrückt oder als Mörder oder als beides zusammen eingesperrt zu werden. Aber ihm war klar, dass seine Zeit als Beobachter dem Ende entgegenraste. Der Moment, da er eingreifen musste, würde bald kommen. Also versuchte Wells, seine Nerven zu beruhigen, derweil er Carson möglichst unauffällig im Auge behielt und sich die ganze Zeit über fragte, wo die Leiche des echten Carson geblieben sein mochte. Wahrscheinlich draußen, irgendwo im Schnee begraben. Während er die Augen offenhielt, wunderte er sich, dass der Gesandte ihn nicht erkannte, obwohl sie sich in der Kanalisation von London doch schon ausführlich unterhalten hatten … Immer wieder musste er sich in Erinnerung rufen, dass dies alles noch gar nicht geschehen war, so deutlich er sich auch daran erinnerte.
    Er erkannte, dass die Entscheidung bevorstand, an dem Tag, als er an Steuerbord Wache hielt und Reynolds nach dessem missglückten Erkundungsgang aus dem Schnee kommen sah, mit den Armen fuchtelnd und zum Schiff hinaufrufend, er habe Carsons Leiche gefunden. Als er dann an Bord kam und Carson auf Deck Wache stehen sah, war er wie ein Schlafwandler zu ihm hingegangen, während Wells die beiden nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Als er sie miteinander sprechen sah und unten die Schlittenhunde wie von Sinnen bellen hörte, wurde ihm klar, dass der Gesandte, falls er sich entdeckt fühlte, jeden Moment seine wahre Gestalt annehmen konnte. Doch nach dem Gespräch ging der Forscher in seine Kabine, woraus unschwer zu schließen war, dass dieser Narr aus einem unerfindlichen Grund beschlossen hatte, seine Entdeckung für sich zu behalten. Hatte er Carson in seine Kajüte gebeten, um irgendwas mit ihm auszuhandeln? Wells wusste es nicht, doch es interessierte ihn auch gar nicht, welche Strategie Reynolds verfolgte. Alles deutete nämlich darauf hin, dass das Massaker kurz bevorstand, da der Forscher ganz offensichtlich mit einer Bombe spielte, die ihm in den Händen explodieren würde. Was dann ja auch geschah, wie Sie alle wissen.
    Vielleicht fragen Sie sich, ob Wells zu irgendeinem Zeitpunkt der Orgie von Gewalt, Blut und monströsen Verwandlungen auch mal daran dachte, sich der Verantwortung für die Menschheit, für alle, die er liebte und die noch gar nicht geboren waren, zu entziehen und nur die eigene Haut zu retten. So unglaublich Ihnen das erscheinen mag; die Anwort ist nein. Das kann ich Ihnen ohne Probleme versichern, denn nichts fällt mir leichter, als in die Herzen meiner Helden zu sehen. Um vollkommen aufrichtig zu sein, muss ich Ihnen aber auch sagen, dass Wells dies nicht aus Pflichtbewusstsein oder Selbstlosigkeit außer Betracht ließ, sondern aus dem einzigen Grund, weil er sich – seit die Blutorgie an Bord der
Annawan
begonnen hatte – nur noch darauf konzentrierte, nicht unbewusst den geheimen Mechanismus seines Gehirns in Gang zu setzen, der ihn wieder mit wer weiß welchem Ziel in den Abgrund der Zeit gestürzt hätte. Und vielleicht war es diese besessene Konzentration darauf, sein Herz und seinen Geist nicht übermäßig zu beanspruchen, die ihm half, dem ringsum tobenden Schrecken mit kaltblütiger Gelassenheit zu begegnen. Nur so war es ihm möglich gewesen, dem überhitzten Kapitän den Revolver an die Schläfe zu setzen und ihn zu zwingen, auf Reynolds zu hören, sowie später durch die Hölle der Explosionen zur Waffenkammer zu gehen und die Dynamitpatronen an die Harpune zu binden, danach von Bord zu gehen und auch dann noch nicht die Beherrschung zu verlieren, als er sah, wie die letzte gewaltige Explosion die
Annawan
in einen unförmigen Haufen gesplitterten Holzes und verbogener Eisenteile verwandelte, umgeben von zerfetzten und verbrannten Leichen, und erkannte, dass er seine Hoffnung auf Rückkehr in die Zivilisation – selbst wenn seine Mission Erfolg haben sollte – getrost begraben konnte.
    So lag er schmerzerfüllt und ohne Perspektive unter all den Toten unerkannt im Schnee. Durch die Explosionen war er nahezu taub geworden, und die Umgebung kam ihm vor wie in eine urgeschichtliche Stille gebettet; die ursprüngliche Stille, die

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