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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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über der Erde gelegen hatte, bevor der Mensch sie mit seinen künstlich erzeugten Geräuschen verdarb. Die aus dem Wrack lodernden Flammen sanken immer mehr in sich zusammen und erloschen allmählich wie das Gedächtnis alter Leute. Wells erinnerte sich nun, dass der Gesandte den Untergang des Schiffes überlebt hatte, da er im Eis eingeschlossen aufgefunden worden war. Aufmerksam ließ er daher seinen Blick über die verstreut umherliegenden menschlichen Überreste schweifen, bis er voller Schrecken an einem dunklen Klumpen hängen- blieb, der sich zu regen begann. Er befand sich ungefähr dreißig Schritte von ihm entfernt, dennoch konnte Wells, als der Haufen sich langsam aufrichtete, deutlich erkennen, dass es keine menschlichen Umrisse waren. Die Gestalt war von leckenden Flammen bedeckt, die ihr das Aussehen einer wandelnden Fackel gaben, was sie aber nicht im mindesten zu beeinträchtigen und ihr auch keinerlei Schmerz zu verursachen schien. Aus Angst, entdeckt zu werden, drückte Wells den Kopf in den Schnee und bewegte sich nicht, lag da wie eine Leiche unter vielen und beobachtete die Kreatur. Er atmete erleichtert aus, als er das insektenartige Monster in der Gegenrichtung verschwinden sah, stirnrunzelnd allerdings zur Kenntnis nehmend, dass ein Stück entfernt zwei weitere Schatten aufsprangen. Das mussten Allan sein und Reynolds, der zum Hundekäfig rannte. Sobald er die Tür geöffnet hatte, stürzte die wie wahnsinnig sich gebärdende Meute hinaus, dem Gesandten entgegen, der seine Arme ausbreitete und die spitzen Klauen sehen ließ. Den ersten Hund, der ihn ansprang, schlug er mit einem Hieb in zwei Stücke. Danach war klar, dass die Schlittenhunde nur eine kleine Belästigung für ihn darstellten. Nachdem er den letzten mit einer beinahe nachlässigen Bewegung zerfetzt hatte, sah Wells ihn ohne jede Hast – es war, als genieße es die Vorfreude auf seinen sicheren Sieg – auf seine Kameraden zugehen, die offenbar zu entkräftet waren, um weiter davonzulaufen. Warum auch das Unvermeidliche hinauszögern! Als die entsetzliche Kreatur keine fünf Schritte vor ihnen stehen blieb und ihr triumphierendes Gebrüll ausstieß, wusste Wells, dass dies der Moment war, in dem er das Ungeheuer mit der Harpune erledigen konnte. Wenn er es nicht tat, würde der Gesandte im Eis einfrieren, obwohl Wells sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie Allan und Reynolds das bewerkstelligen wollten. Auch würde dies letztendlich die Invasion nicht verhindern, das wusste er ja. Er musste das Marsungeheuer ein für alle Mal erledigen, dafür war er hergekommen. Nur aus diesem einen Grund war er durch Raum und Zeit gereist.
    Entschlossen sprang Wells auf die Beine, die Harpune wurfbereit in der Hand, und da spürte er es. Verwirrt schaute er sich um. Etwas stimmte nicht, aber er wusste nicht, was. Um ihn herum war alles noch wie im Moment zuvor: das qualmende Schiffswrack, die im Schnee verstreuten Leichen, das Monster im Begriff, seine Kameraden zu töten … doch zugleich schien alles in weite Ferne gerückt zu sein. Vielleicht nicht in die Ferne, denn die Entfernungen waren immer noch gleich; aber alles andere: Das blasse Abendlicht schien noch matter geworden, die Kälte weniger beißend zu sein, der Schnee machte die Kleidung nicht feucht, und die Luft trug keinerlei Geruch mehr heran – von kokelndem Holz, verbranntem Fleisch, nicht einmal den des eigenen Schweißes. Es fehlte allem an Intensität, an Wirklichkeit, an Kontrast; er wusste nicht, wie er es hätte benennen können, was Dinge ausmachte. Es war, als hätte sich alles zurückgezogen, obwohl alles noch da war. Als befände er sich in der Erinnerung an dieser Stelle; zu einem Zeitpunkt, an dem sie schon nicht mehr existierte, anstatt jetzt an dieser Stelle zu sein … Da begriff Wells mit schmerzlicher und unverrückbarer Gewissheit, dass es wieder passieren würde, dass ihm eine weitere Zeitreise unmittelbar bevorstand. Mit zittrigen Händen zündete er die Lunten der Dynamitpatronen an und betete, dass sein Körper noch ein paar Sekunden in der Gegenwart blieb. Er wusste nicht, mit welchem Vorlauf sich die Symptome einstellten und dieses kaum merkliche Verblassen der Wirklichkeit, das den Zeitsprung ankündigte, denn weder im Schlaf noch im Klärbecken hatte er sie überhaupt bemerkt; er hoffte nur, dass ihm noch die Zeit blieb, die Harpune zu schleudern. Er sah, wie das Ungeheuer sich aufrichtete, um den finalen Schlag gegen Allan und Reynolds

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