Die Landkarte des Himmels
nicht seiner Verantwortung stellte, nicht auf dem verwünschten Schiff anheuerte, sein schlechtes Gewissen ihm ein neues Leben unmöglich machen würde. Wenn er aber an Bord der
Annawan
ging und den Gesandten umbrachte, würde er die Invasion verhindern und die Erde retten. Jeder seiner Gefährten hatte die ihm zugedachte Rolle gespielt; nun war es an ihm, seine zu übernehmen. Und das würde er tun, dachte er. Aber er würde sich beeilen müssen, denn ihm blieb gerade noch genug Zeit, ein Schiff nach den Vereinigten Staaten zu finden und, sobald er dort angekommen war, sich der Mannschaft der
Annawan
anzuschließen.
Wells strich sich nervös über sein Schnurrbärtchen, wie er es den Gesandten hatte tun sehen, während sich sein Blick in der Unendlichkeit verlor. Er stellte sich vor, dass er jetzt jenen Ausdruck wehmütiger Schicksalsergebenheit im Gesicht trug, der Helden eigen ist, die ihrer opfervollen Bestimmung zum Wohl der Menschheit ins Auge blicken; in Wirklichkeit glich er jedoch eher einem Mann, der verwundert feststellt, dass ihm über Nacht ein Bärtchen gewachsen ist. Ein scheues Lächeln trat auf seine Lippen. Er war sicher, dass Jane, wo immer sie sich jetzt befand, stolz sein würde, dass er sein Schicksal so heroisch annahm. Und diese Gewissheit wiederum bewirkte, dass er zwar nicht unbedingt die dazu nötige innere Kraft fand; auf jeden Fall aber etwas, mit dem er seiner Angst ein Schnippchen schlagen zu können glaubte. Ein entschlossenes Kopfnicken, dann marschierte er schnurstracks zum Hafen, um seine Pflicht zu tun. Nein, der Mechanismus in seinem Kopf war nicht dazu da, die Tomaten im Gewächshaus schneller wachsen zu lassen. Er diente definitiv einem anderen Zweck.
XXXIX
Da er anbot, auf der Überfahrt ohne Lohn zu arbeiten, hatte Wells keine Schwierigkeiten, in die Mannschaft eines Schiffes aufgenommen zu werden, das mit viertausend Tonnen Festholz nach Amerika fuhr. Es kämpfte sich so schwer durch den Atlantik, als würde es nur von einem Paar Maultieren gezogen, und der Schriftsteller befand sich verständlicherweise jedes Mal am Rande eines Nervenzusammenbruchs, wenn er sich vorstellte, dass er zu spät kam und alle Mühe umsonst gewesen wäre. Er erreichte New York nur wenige Stunden, bevor die
Annawan
ablegte, und er musste seine ganze Redekunst aufbieten, damit der Kapitän – ein aufbrausender Mensch mit kaltem Blick – ihn in die schon vollzählige Mannschaft aufnahm: Er war zwar nicht stark, dafür aber fleißig; und ein «Nein» würde er nur akzeptieren, wenn man ihm beweisen könne, dass die im Lagerraum gebunkerten Nahrungsmittel exakt für siebenundzwanzig Männer und vier Monate berechnet waren. Falls nicht, würde ein Esser mehr oder weniger keinen Unterschied machen. Außerdem aß er nicht viel. Notfalls würde er sich sogar von den Ratten im Schiffsbauch ernähren. Platz würde er auch nicht viel beanspruchen, wie jeder sehen könne. Irgendein Eckchen zum Schlafen reichte ihm. Er musste auf dieses Schiff, und dafür war er bereit, jedes Opfer zu bringen. Dem Kapitän schien das zu gefallen, oder vielleicht nahm er ihn auch nur an Bord, um ihn das Fürchten zu lehren. Vielleicht glaubte er, ein bisschen Spaß haben zu können, wenn er zusah, wie dieses schwachbrüstige Männlein zerbrach, sobald es dem harten Leben auf hoher See ausgesetzt war, das ihn selbst in vielen Jahren zu dem allen Gefahren trotzenden Seemann gemacht hatte, der er war. Und so fand sich Wells nach einer knappen Stunde da, wo er – wäre seine Mission nicht gewesen – niemals gelandet wäre, nämlich unter einem Haufen ungehobelter, großmäuliger Seeleute, die nach Schweiß und Rum und vergeudeten Leben stanken.
Und wer meine Geschichte bisher mit der gebotenen Aufmerksamkeit verfolgt hat, wird längst erraten haben, dass ich mit dem einzigen – und, wie ich hoffe, entschuldbaren – Ziel, Sie zu überraschen, direkt mit ihrem Ende angefangen und mich keineswegs geirrt habe, als ich diesen Anfang wählte. Denn das war ja meine Frage: Ist ein Anfang nicht immer auch das Ende einer anderen Geschichte? Wer von Ihnen mich schon bei anderen Erzählungen begleitet hat, wird wissen, dass es Geschichten gibt, die nicht mit dem Anfang beginnen können; und diese ist möglicherweise so eine. So ist jetzt also der Moment gekommen, Ihnen zu verraten, dass Wells nicht unter seinem richtigen Namen anheuerte, sondern unter dem Namen Griffin, der der des Protagonisten seines Romans
Der Unsichtbare
ist. Er
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