Die langen Schatten der Erleuchtung
man bis zum Sonntagabend davon mit großem Appetit essen konnte. Von einem Eintopf, über Pfannkuchen und Nudelsalat reichten seine Kochkünste. Auf diese Weise versöhnt, sah jeder Harald seinen mörderischen Posten am Kopierer nach, da man sich am Wochenende nur zu bedienen brauchte und seine kostbare Zeit nicht mit Kochen und Einkaufen vertrödeln musste. An diesen Tagen war Marlies immer besonders stolz auf ihren Harald und nannte ihn vor allen auffällig oft „ Mein Schatz “.
Und bevor die unterschiedlichen Ansichten über Jojos sexuelle Identität hätten ausarten können, hörten Marlies und Jutta die Schritte von Harald im Flur, der sich für das Heimspiel von Pauli umgezogen hatte. Jackett, Oberhemd und Schlips waren einem braunen T-Shirt mit dem Vereinsemblem gewichen. Er hatte sich einen braunen Schal lose um die Schultern geworfen, auf dem stand: You never walk alone . Seine graue Anzughose mit der messerscharfen Bügelfalte hing jetzt ordentlich im Schrank und erholte sich von den Strapazen der vergangenen Werktage. Jetzt trug Harald eine verwaschene Jeans mit neongelben Hosenträgern, die mit Smilies verziert waren. Rote Turnschuhe vervollständigten seine Verwandlung vom Sachbearbeiter zum entfesselten Werwolf des Fanclubs St. Pauli.
Bei den übrigen Mitbewohnern war eine ähnliche Verwandlung zu beobachten. Vera lehnte die riesige Vereinsflagge mit dem Piratensymbol an die Garderobe im Flur und zog sich eine verwegene Schlägermütze in den Vereinsfarben über das rechte Ohr. Befriedigt kontrollierte sie ihre militante Erscheinung im Spiegel. Nur Marlies und Jutta konnten sich an diesem Wochenende noch nicht von Hanifs und Jojos Pyjamahosen trennen und trugen dazu nur die Schals in den Vereinsfarben. Auch Gary verzichtete an diesem Tag auf seine helle Kleidung und ging in den Pauli-Farben Braun.
„Käthchen“, meinte er geradezu aufgeräumt, „ich bestücke schon mal deinen Laufwagen!“
„Mach das, mein Jung‘ !“, antwortete Käthchen von ihrem Rattanelement am Kühlschrank und kaute bedächtig an ihrem dritten Brötchen mit Beefsteakhack und Zwiebeln. Gary fuhr aus dem Flur einen sechsrädrigen Laufwagen mit Doppelbereifung vor den Kühlschrank - einem getunten Sondermodell, das Gary entworfen und zusammengeschweißt hatte, wobei mehrere Einkaufswagen vom Wal-Mart dran glauben mussten - und belud ihn mit Dosenbier, Rotwein, Salamiwürsten, Frikadellen, zwei Thermoskannen mit Kaffee, Chips und Crackers. „Käthchen“, bestaunte er zufrieden sein Werk, „ich fahre deinen Laufwagen schon mal auf die Terrasse!“
„Mach das, mein Jung‘ !“, näselte Käthchen mit vollem Mund und nahm den ersten Bissen vom vierten Hackbrötchen. Gary manövrierte den Laufwagen durch die Zimmer von Käthchen auf die Terrasse. Käthchen zog es aufgrund ihres Gewichts vor, das Haus nur über die ebenerdige Terrasse zu betreten und zu verlassen, da die Überwindung der fünf Stufen an der Haustür für sie den Strapazen einer Eigernordwand-Besteigung gleichkam.
„Das Spiel ist für Jojo und Hanif auch eine tolle Gelegenheit, sich mit unserer Kultur etwas vertraut zu machen“, meldete sich Vera zu Wort, „und danach ziehen wir noch über den Kirmes! Das wird auch neu für sie sein! Am besten gehen wir wieder Zum Ochsen - dort gibt es Bier und Blasmusik! Das müssen die beiden unbedingt kennenlernen!“
Jojo und Hanif waren wie üblich in der Frühe aufgestanden und hatten sich vor dem Bücherregal an der noch schlafenden Jutta vorbei nach unten in die Küche geschlichen. Dort trafen sie auf Harald, der bereits Spiegeleier brutzelte und sie bedrängte, von allen Gerichten zu kosten. Einer Pflicht, der Hanif nur zu gerne nachkam, denn seitdem er in einem richtigen Bett schlief, war er munterer denn je. Es schien, als hätte eine Verjüngungskur bei ihm angeschlagen. Als die anderen dann in der Küche erschienen, waren die beiden schon mehr als satt und tranken nur noch Tee mit Milch und Zucker - auf englische Art, wie sie es aus Indien gewohnt waren.
Auch Käthchen hatte nun seit einigen Minuten das Essen eingestellt und trank jetzt mehrere Becher stark gesüßten Kaffee, ehe sie sich ächzend erhob, wobei das gefolterte Rattanelement sich wieder zur seiner ursprünglichen Größe aufzurichten versuchte. „Gary, mein Jung´, es wird Zeit!“, meinte sie. Käthchen war die einzige Person, die es sich erlauben durfte, Gary, „ mein Jung´“ zu nennen, ohne dass er gleich einen Tobsuchtsanfall
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