Die langen Schatten der Erleuchtung
einschlugen, der kaum fünfzig Meter weiter seinen Eingang hatte. Käthchen ging, von Gary unterstützt, mit ihrem Gehwagen vorneweg, und wegen ihres geringen Tempos glich die Wohngemeinschaft einem Prozessionszug, der sich durch das Gedränge vorbei an den Karussells, Geisterbahnen und Schießbuden seinen Weg zum Festzelt „ Zum Ochsen “ bahnte.
Jojo und Hanif schauten staunend umher und konnten kaum den Blick vom beleuchteten Riesenrad wenden. Schon war die Blasmusik aus dem Festzelt zu hören. Am Eingang drehten sich in riesigen Grills Hähnchen, Spießbraten und Haxen.
Das Festzelt war bis auf den letzten Platz von lärmenden Menschen besetzt. Doch unter Käthchens Vorsitz, die den Wirt des Festzeltes aus all den Jahren kannte, bekamen sie noch den Tisch in der Nähe der Toiletten dicht bei der Bühne, der eigentlich für das Personal gedacht war. Die Blaskapelle schmetterte gerade einen Marsch. Und ehe sich Jojo und Hanif versahen, stand auch schon ein Teller mit einer Haxe und Kraut vor ihnen, dazu ein gewaltiges Maß Bier. „Das alles geht aus unserer gemeinsamen Kasse für Lebensmittel!“, erklärte Vera den beiden mit ihrer vom Schreien heiseren Stimme und hob prostend das riesige Maß Bier an die Lippen, „also langt tüchtig zu!“
Auch mit Harald war eine erstaunliche Veränderung vor sich gegangen, die jetzt ihrem Höhepunkt zustrebte. Das Gehabe des ernsten, unbestechlichen Steuerprüfers war mit den ersten Schlucken aus dem Bierkrug nun endgültig hinweggeschwemmt worden. Er war in seiner ausgelassenen Stimmung nicht mehr zu bremsen und hatte als erster sein Maß Bier hinuntergestürzt, wobei er die geblasenen Lieder lauthals mitsang.
Gary hatte sich bemüht, neben Hanif zu sitzen. Er litt schon seit Monaten unter einem schrecklichen Problem, das ihn bis in den Schlaf verfolgte, seine Träume beherrschte und ihn jeden Morgen in Schweiß gebadet hoch schrecken ließ. Gerade gestern hatte ihm Socke aus der Anarcho-Szene im Schanzenviertel einen Trick verraten, wie er sein Problem beheben könnte. Mit einem 1mm-Bohrer und einer Nadel. „Ey, Alter“, hatte Socke ihm die Hand auf die Schulter gelegt, „die Sache ist ganz easy! Du bohrst ein Loch von der Seite in den Zähler, dann führst du eine Nadel ein und bringst dieses ätzende Zählerrädchen zum Stehen. Da steckt sowieso die ganze Scheiß Atom-Lobby hinter. Die muss man ficken, bevor die uns ficken - das ist oberste Bürgerpflicht!“
Wie jeder in der Wohngemeinschaft im Haus, hatte auch Gary einen eigenen Stromzähler, der im Flur hinter einem geschmackvollen Vorhang mit Sonnenblumen emsig seine Kilowattstunden addierte. Aber niemand hatte eine Sonnenbank wie Gary in seinem Zimmer, die seinen Zähler so zum Rotieren brachte, dass die Dübel jedes Mal in der Wand tanzten. Jahrelang hatte er einen viel zu geringen Zählerstand mit der Postkarte an die Elektrizitätswerke gemeldet, damit es nicht zu einer Nachzahlung kam. Der Stromverbrauch war in astronomische Höhen geklettert, hatte vor kurzem in den sechsstelligen Bereich gewechselt, während Gary immer noch eine fünfstellige Zahl an die Elektrizitätswerke meldete. Wenn er morgens aufwachte, galt sein erster Gedanke dem Zähler, der seine Ziffern wie ein Rudel Schlittenhunde unaufhaltsam vorantrieb und seinen finanziellen und seelischen Ruin zu besiegeln drohte. Gary benötigte die Sonnenbank, sie war lebensnotwendig für ihn. Seine ganzjährige Bräune war sein Ein und Alles. Wenn ihm die Frauen überhaupt einen Blick gönnten, dann wegen seiner makellosen Bräune, die ihn in Verbindung mit seinen kurzen, blond gefärbten Haaren zwar wie eine Comic-Figur aussehen ließen – aber man musste hingucken. Ohne diese Kombination aus Bräune und Blondheit hätte er sich endgültig von seinem ohnehin schon kümmerlichen Liebesleben verabschieden können. Das wusste Gary nur zu genau.
„Hanif“, begann er und tickte den von seiner Haxe völlig vereinnahmten Gast aus dem fernen Indien an, „Hanif, du musst mich unbedingt mal in meinem Apartment besuchen. Ich fühle, wir haben vieles gemeinsam. Am besten gleich morgen!“ Hanif kaute unbeirrt weiter und nickte freundlich.
„Weißt, du Hanif“, fuhr Gary fort, „ich bin eigentlich schon satt, willst du noch ein Stück von meiner Haxe?“ Hanif nickte. Gary war beruhigt, die erste Verbindung war geknüpft, der Anfang war gemacht. Ich brauche unbedingt jemanden, der mir beim Bohren die Leiter hält und aufpasst, dass mich keiner dabei
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