Die langen Schatten der Erleuchtung
zu machen. Zu seiner Linken lag eine Seitenstraße, deren Einblick durch eine hohe Metallwand versperrt war. Durch eine Öffnung schritten Männer ein und aus. Hanif las auf dem Straßenschild Herbertstraße, und er vermutete, immer noch unter dem Eindruck des gewaltigen Flusses, viele andere, wunderbare Entdeckungen in dieser Gegend. Er folgte kurz entschlossen einer Gruppe feixender, junger Männer. Hinter der Metallwand fand er sich in der kleinen, unscheinbaren Straße wieder. Vor den Schaufenstern zu ebener Erde standen die Männer zusammen und gestikulierten lebhaft. Neugierig gesellte sich Hanif zu ihnen und sah im Fenster drei fast nackte Frauen auf Stühlen sitzen. Auch ein Stück weiter am nächsten Fenster bot sich das gleiche Bild. Die Frauen blickten aufreizend und sprachen die Männer an. Hanif ging noch ein Stück weiter. Hier wurde er herrisch von Frauen in knapper Lederkleidung gemustert. „Na, junger Mann“, meinte ein besonders massiges Weib in geschnürten Stiefeln, „so alleine? Willst du nicht auf ein halbes Stündchen zu mir reinkommen und es dir mit mir gemütlich machen?“
Hanif schlenderte unentschlossen weiter. Er wollte nicht gleich in den ersten Tagen rückfällig werden. So beschloss er, diese Straße der Versuchung umgehend wieder zu verlassen, jedoch nicht, ohne noch einmal in alle Fenster auf beiden Seiten geschaut zu haben.
Als Jutta nach dem Mittagessen den Abwasch erledigt hatte, brühte sie noch zwei Becher Tee auf, ging zu Jojo in den Garten und setzte sich neben ihn auf die Bank. Sie reichte ihm einen Becher und Jojo nickte dankend. Bei dem heißen Wetter war es eine Wohltat, im Schatten der Fliederbeerbüsche zu sitzen.
„Jetzt geht es mir schon wieder etwas besser!“, meinte sie zu Jojo.
„Das freut mich!“
„Na ja, es ist immer das alte Lied: wenn man in ausgelassener Stimmung nicht Schluss machen kann! Man möchte immer weiter tanzen und noch mehr Wein trinken, obwohl man aus Erfahrung weiß, dass es nicht gut ist und man am nächsten Tag krank ist!“
„Wäre es nicht besser, erst gar nicht mit etwas zu beginnen, von dem man weiß, dass es so endet?“
„Ach, Jojo, das Leben ist die meiste Zeit so entsetzlich langweilig und öde, da freut man sich über ein wenig Abwechslung und Stimmung!“
„Das Leben ist häufig nur, was man selber ist! Es ist nur ein Spiegel!“
„Für dein Alter, Jojo, redest du wirklich sehr klug daher! Hast du viele Bücher gelesen? Du redest wie ein Student!“
„Liest ein Student Bücher?
„Ein Student liest nur Bücher! Er weiß fast nichts vom tatsächlichen Leben!“
„Was weißt du vom tatsächlichen Leben, Jutta?“
„Ist das dein Ernst?“
„Ich bin immer ernst!“
„Na, ich will mal sagen, ich weiß, wie der Hase läuft!“
„Du meinst damit, dass du dich in deinem Leben und dieser Welt zurecht findest!“
„Ja, genau das! Ich habe immer bekommen, was ich wollte!“
„Und was ist das?“
„Na, Erfolg bei Männern. Tolle Freunde. Gutes Essen und Trinken. Urlaub, Spaß und gute Laune. Eben, all das, was das Leben lebenswert macht! Ich habe immer mehr als meinen Teil bekommen. Ich kann mich nicht beklagen!“
„Und meinst du nicht, wenn du den gestrigen Abend und den Morgen vergleichst, dass es sich dabei um eine Illusion handelt?“
Bevor Jutta antworten konnte, wurden sie durch die eisenbeschlagenen Schritte Hanifs abgelenkt, der in seinen Cowboystiefeln über die Gehwegplatten zu ihnen durch den Garten stelzte.
„Ich habe erstaunliche Dinge gesehen, Meister Jojo, du wirst es nicht glauben“, sprudelte es aus ihm heraus, noch ehe er sich gesetzt hatte. Hanif berichtete alles und ließ auch die Straße mit der Metallwand nicht aus: „Aber dann habe ich mich an deinen weisen Rat von heute morgen erinnert, Meister Jojo, und diesen Ort sofort wieder verlassen. Ich habe nur noch nach dem Turm Ausschau gehalten und nicht mehr nach links und rechts geblickt, bis ich wieder hier war!“
„Übrigens, Hanif“, meldete sich Jutta zu Wort, „diese Frauen in den Fenstern sind nicht weiter gefährlich, sie bieten nur ihre Liebesdienste für Geld an! Wisst ihr überhaupt, wovon ich rede?“
„Ich denke schon, Jutta“, antwortete Jojo, „zumindest Hanif! Er ist Vater von mehr als fünf Kindern und Großvater von zahllosen Enkelkindern!“
„Das ist ja nicht zu fassen, ich habe gedacht, ihr seid Einsiedler! So viele Kinder! - Ich gehe mal kurz in die Küche und hole dir auch einen Becher Tee,
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