Die langen Schatten der Erleuchtung
gemarterte Rattangeflecht mit einem letzten Quietschen seinen Geist auf. Um ihre Nerven zu beruhigen, zog Käthchen die Schublade ihres Nachttischs auf und fiel über eine Schachtel Pralinen her.
Marlies versuchte zu schlafen, doch wegen der jäh einsetzenden Migräne konnte sie kein Auge mehr zutun. Wimmernd hielt sie sich den gemarterten Kopf und beschloss, in der Küche ein Aspirin einzunehmen. Als sie die Tür öffnete, blickte sie geradewegs auf das zusammengedrückte Rattanelement, das von einem mächtigen weiblichen Gesäß dominiert wurde, das wild auf- und abstampfte. Nur die Cowboystiefel an den Füßen des Opfers dieser feindlichen Übernahme ließ Marlies die Identität beider Personen erahnen. Vera war ein Mensch, der angefangene Dinge konsequent zu Ende führte, so auch in diesem Falle. Sie ließ sich nicht beirren, als Marlies dem Rot-Kreuz-Kasten an der Wand ein Aspirin mit einem „Tut mir leid!“ entnahm und in Richtung Badezimmer stürzte. Sie hatte kaum den Wasserhahn aufgedreht, als sie mitanhören musste, wie Vera an ihr Ziel gekommen war und in den triumphalen Schrei „ Ho Ho Ho Chi Minh “ ausbrach und sich so zu vorgerückter Stunde als Kommunistin outete. Eine Angewohnheit aus Zeiten, als sie noch mit mehreren Genossen in einer marxistisch-leninistischen WG lebte. Marlies ließ vor Schreck das Zahnputzglas scheppernd ins Waschbecken fallen. Käthchen stopfte im Nebenzimmer schwer atmend die letzten Pralinen in sich hinein, während Gary ein Stockwerk höher voll bekifft unter seiner Sonnenbank lag. Mit einem seligen Lächeln hielt er seinen Schwanz wie eine Ruderpinne in der Hand und steuerte damit seine Sonnenbank-Dschunke über den goldschimmernden Ozean seines Rausches, während er glaubte, im Vorderdeck am Ende des Flurs die Bootsplanken rhythmisch knarren und seinen indischen Bootsmann Heimatlieder singen zu hören.
In der linken Hand die letzte Dose Bier, die rechte ans Treppengeländer gekrallt, wankte Hanif erschöpft nach oben. Auf seinem Hintern und Oberschenkeln trug er das eingestanzte Muster des verendeten Rattangeflechts. Es wurde schon hell, und er hörte die Vögel zwitschern. Vorsichtshalber ging er noch mal auf die Toilette. Als er wieder auf den Flur trat, öffnete sich Garys Zimmertür. Gary legte einen Zeigefinger an die Lippen und winkte Hanif in sein Zimmer. Behutsam schloss er hinter ihm die Tür.
„Die anderen sollen beim Schlafen nicht gestört werden!“, erklärte er dem verdutzten Hanif, der sich in dem orientalisch ausgestatteten und duftenden Zimmer umsah. Der Raum wurde von einer gewaltigen Sonnenbank beherrscht, die fast die gesamte Wand gegenüber seinem Bett einnahm. Gary zog ihn zu einem kleinen Tisch, drückte ihn auf eines der ledernen Sitzkissen am Boden und schenkte ihm einen Becher Tee ein.
„Gut, dass du daran gedacht hast und vorbei gekommen bist, Hanif! Bist ein echter Freund! Zu dir hatte ich von Anfang an Vertrauen. Du musst wissen, eigentlich bin ich ja die Wiedergeburt eines Brahmanen. Wir sind sozusagen Landsleute. Na ja, man sieht es ja schon an der Hautfarbe!“, erklärte Gary stolz und hielt seinen rechten Arm hin. „So bin ich eigentlich auch ein Fremder hier. Wie ihr! Fremd in dieser Gegend und in diesem Haus. Ich komme mit den anderen nicht klar, ich hab´ einfach keinen Draht zu ihnen. Käthchen ist dabei noch die Netteste von allen. Obwohl sie nur an die vergangene Mahlzeit und an das nächste Essen denkt. Wenn der Kühlschrank nicht am Freitag bis zum Rand gefüllt ist, wird sie hysterisch, weil sie befürchtet, sie bekommt sonst über das Wochenende Skorbut! Du siehst es ja selbst, sie kann sich vom Fressen kaum noch bewegen! Und doch ist sie mir die Liebste von allen! Aber nimm nur zum Beispiel Harald, diesen Wichtigtuer. Er hat nichts anderes im Kopf als seine alberne Firma mit diesem idiotischen Kopierer. Dabei ist Harald selbst nur eine schlechte Kopie von einer Fälschung. Oder Marlies! Ist mit diesem Schwachkopf verheiratet, und was macht sie beruflich? Du wirst es nicht glauben, Hanif – sie ist Eheberaterin! Und Vera erst, diese Kampflesbe! Am liebsten würde sie wohl alle Männer kastrieren lassen. Du hast gestern im Festzelt echt Glück gehabt, Hanif, dass du unbeschadet davongekommen bist! Sie arbeitet in dieser Lesben-Buchhandlung beim türkischen Gemüseladen um die Ecke. Und Jutta ist genauso schlimm, wenn auch auf andere Art! Die war schon mit dem halben Schanzenviertel verlobt. Ich glaube, die hat ein
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