Die langen Schatten der Erleuchtung
Jutta den harten Kern der WG bis zur dritten Reihe durch das Gewühl. Die ersten beiden Reihen waren von stämmigen Frauen in Kopftüchern und langen, grauen und schwarzen Mänteln blockiert. Jojo überragte alle Wartenden um Haupteslänge. Hanif las die großen gelben Plakate mit den fetten, roten Buchstaben „SSV“ und „70%“, „50%“ und „30%“, auf den gläsernen Flügeltüren. „Ist SSV das, was ihr Sommerschluss-Verkauf nennt, und was bedeutet das eigentlich? Kann man den Sommer denn hier bei euch kaufen und verkaufen?“
Jutta prustete: „Ach was, Hanif! Die Kleidung, die von diesem Sommer übrig geblieben ist, wird in den Kaufhäusern nur billiger verkauft, weil sie die sonst nicht mehr loswerden! Bald ist der Sommer vorbei. Und nun sind die Leute schon wieder neugierig auf die neue Mode. Niemand wird die alten Klamotten noch zu den früheren Preisen kaufen!“
„Was ist denn Mode?“, fragte Hanif verständnislos.
„Im nächsten Jahr werden die Kleider andere Farben haben“, versuchte es jetzt Marlies im mütterlichen Ton, „die Röcke werden kürzer oder länger sein, die Schuhe spitz oder rund.“
„Jedes Jahr?“, klinkte sich Jojo in das Gespräch ein.
„Jedes Jahr, sogar zweimal – einmal die neue Sommer- und einmal die neue Winter-Kollektion!“
„Das mag ich nicht glauben! Die Menschen können doch nicht vergessen haben, dass sie vor kurzer Zeit schon mal das Gleiche trugen? Wenn sie die Hosen, Hemden und Röcke eine Weile aufbewahren würden, müssten sie sie nicht noch mal kaufen!“
„Ach, Jojo, mein Schatz, das ist einfach so...“, nahm Jutta schnell wieder das Heft in die Hand, bevor Marlies hätte weiter ausholen können, „alles wechselt so schnell, dass ein und dieselbe Sache schon nach kurzer Zeit langweilig wird. Keine Frau will im nächsten Jahr in Klamotten rumlaufen, die sie schon mal anhatte.“
„Aber Vera trägt doch immer die gleichen Sachen!“
„Ach, Vera – die ist doch kein Maßstab, das müsst ihr doch schon mitgekriegt haben! Wir richtigen Frauen, wir machen es wie McDonald: wir bieten immer das gleiche Produkt unter einem anderen Namen an. Wir halten sozusagen die Suppe am Kochen. Das gefällt unseren Männern hier! Und unsere jüngeren Männer kleiden sich auch cool, um uns Frauen zu gefallen. Gary ist da eher konservativ - das trifft nicht so ganz unseren Geschmack, oder wollen wir mal so sagen, er trägt nur das, was zu ihm passt. So wie kleine Männer immer Schuhe mit Absätzen bevorzugen! Zum Glück finden wir beim Sommerschluss-Verkauf aber auch ab und zu noch ein paar Fetzen, die zeitlos sind und halt immer gut aussehen. Die kaufen wir jetzt für weniger Geld. Für mich einen Badeanzug. Bei meiner Figur ist es eigentlich völlig egal, was ich trage! Findest du nicht auch, Liebster?“, sprudelte es aus Jutta heraus, wobei sie sich in die Brust warf. „Je knapper, desto besser! - Und Hanif kann ein paar zusätzliche Schuhe gebrauchen - er braucht dann nicht Tag und Nacht in seinen Cowboystiefeln herumzustelzen. Für euch beide kaufen wir Klamotten, die ihr im nächsten Jahr noch gebrauchen könnt. Wir denken halt auch praktisch und treffen schon einmal ein paar Vorkehrungen. Man lebt ja schließlich nicht nur für den Augenblick......“
„Wie kann jemand, der so viel an das Morgen denkt, im Heute leben?“
„Das geht sehr gut, mein Schnulli! Wir sagen von Leuten, die nicht an das Morgen denken: Die können nicht weiter denken, als ein Schwein scheißt! Denn ein wenig Vorsorge zur rechten Zeit, macht das Morgen sicherer und angenehmer.“
„Das Morgen? Ihr denkt hierzulande ganz schön viel an das Morgen – soviel, dass keiner mehr sieht, dass es so etwas wie eine Zukunft gar nicht gibt. Ihr seid zwar mit dem Körper hier in der Gegenwart, aber euer Geist ist ständig mit etwas anderem beschäftigt, ... mit irgend etwas, was irgendwann einmal sein könnte....als ob das tatsächliche Leben morgen erst beginnen würde. Ist das nicht eine ziemlich nebelhafte, verschwommene Angelegenheit!?“
„Finde ich überhaupt nicht! Wenn ich an unsere Nächte denke, Jojo, dann wird mir immer ganz anders. Und ich möchte sie wiederholen. Jetzt, sofort! Heute abend und morgen natürlich auch! Du etwa nicht?“
„Ich lebe das Jetzt, Jutta, nicht heute abend . Selbst heute abend ist jetzt, aber es wird immer anders sein als geplant..., liebe Jutta, nie das, was man sich wünscht und
Weitere Kostenlose Bücher