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Die langen Schatten der Erleuchtung

Die langen Schatten der Erleuchtung

Titel: Die langen Schatten der Erleuchtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirti Peter Michel , Klaus-Jürgen Leimann
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damals der Elan, dieser eigenmächtigen Beförderung zu widersprechen.
     
    „Hari“, sagte Major Milster eines abends zu vorgerückter Stunde auf der Terrasse, als er die Flasche Gin schon fast geleert hatte, „Hari, jede Nation hat ihre Neigung zur Mystik und zu den ihr eigentümlichen Wahrheiten. Sei es durch Meditation, Askese oder Tänze. Uns Briten wird der Zugang zur Geisterwelt durch den Gin ermöglicht, notfalls auch durch Whisky. Alles, was du mir von euren heiligen Männern erzählt hast, ist mir durch den Gin auch vertraut: der Stillstand der Zeit, wenn der jetzige Augenblick zur Ewigkeit wird. Und vieles mehr, was man über die Sprache nicht mitteilen kann! Willst du meine Wahrheit hören, mein Sohn?“
     
    „Gerne, George!“, antwortete Hari, der als Sekretär der Einfachheit halber dazu übergegangen war, Major Milster bei seinem Vornamen zu nennen.
    „Der Blick auf die eigentliche Welt ist durch einen Vorhang versperrt. Es geht darum, diesen Vorhang beiseite zu schieben! Verstehst du das, Hari!“
     
    „Sicher, George! Ich denke, wir Inder haben auf diese Wahrheit das Copyright!“
     
    „Und weißt du, Hari, was du erblickst, wenn du den Vorhang beiseite geschoben hast?“
     
    „Sage es mir bitte, George!“
     
    „Einen weiteren Vorhang, Hari!“ Danach hatte sich Major Milster den restlichen Gin eingeschenkt und nichts mehr gesagt. Kaum ein Jahr später nach seinem nicht gänzlich überraschenden Hinscheiden fiel das Grand Hotel in den Besitz von Hari, der das Anwesen jetzt endgültig verfallen ließ und im Kamin des Esszimmers große Teile des westlichen Flügels im Laufe der Jahre verheizte.
     
    Erst als europäische Wahrheits- und Sinnsucher in der Umgebung einige Gurus ausfindig gemacht haben wollten, fand das Grand Hotel des Dorfes Milster , wie man es nun zu Ehren des Majors nannte, wieder einigen Zulauf. Balak jun. ergänzte rechtzeitig sein Warensortiment mit Trekking-Sandalen, Räucherstäbchen und geweihten Gebetsketten. Die jungen Leute logierten einige Nächte in Haris Absteige, die einige der begüterten Asketen den Ruinen-Ashram nannten. Dies sollte sich als eine gute Einstimmung auf die kommenden Entsagungen im Dschungel erweisen, wenn sie ihren Weg zu den Stätten der Gurus in die Wildnis fortsetzten. Diesem Umstand war es zu verdanken, dass der Ort Milster noch immer bestand und nicht schon wieder vom Dschungel überwuchert worden war.
     
    Der Weg durch das fast undurchdringliche Dickicht war für Hubertus und Mathilda beschwerlich gewesen, und beiden graute es schon vor dem Rückweg. Doch jetzt genossen sie jeder noch ein gekühltes Bombay Pilsener aus dem einzigen Kühlschrank des Dorfes, nachdem die Frau des Händlers Balak jun. ihnen ein scharfes Reisgericht serviert hatte. Balak jun. hatte auch noch zwei Flaschen Schnaps mit einer abenteuerlichen, bengalischen Farbe aus den unerschöpflichen Beständen seines Warenlagers aufgetrieben, die er Hubertus nach langem Feilschen überlassen hatte. „Echter Schottischer Whisky!“, hatte Balak jun. mit vor Entzücken verdrehten Augen die Flaschen, die kein Etikett mehr aufwiesen, angepriesen. Hubertus war es gelungen, den Preis herunter zu feilschen, da er auf alle Lebensmittel, mit denen er nach und nach seinen Rucksack füllte, Prozente verlangte: Reis, getrocknete Bohnen, Linsen und Erbsen, Tee, Öl und Mehl.
     
    Balak jun. strahlte vor Freude über den prächtigen Handel und legte vier nur leicht oxidierende Batterien für Mathildas Radio dazu. „Ein Geschenk von der Geschäftsleitung“, pries er seine Großzügigkeit, „Balak ist ein ehrlicher Händler. All seine Kunden kommen immer wieder, selbst von weit her!“ Ungefragt stellte er eine weitere 1-Literflasche Bombay Pilsener auf den Tisch.
     
    Die Dörfler, die über die lehmige Straße an dem Laden vorbei kamen, schauten neugierig herüber und deuteten mit Fingern auf sie. Mehrmals hörten Hubertus und Mathilda Wortfetzen, in denen die Namen Jojo und Hanif vorkamen. Nicht selten gingen diese Gespräche in ein verstohlenes Gelächter über, wobei man ihnen jedoch freundlich zunickte.
     
    „Mathilda, guck dir mal diesen armen Irren da an“, meinte Hubertus, nachdem er einen großen Schluck Bier genommen hatte, „an wen erinnert der dich?“ Mathilda blickte in die Richtung, in der Hubertus geschaut hatte und sah einen mageren, hoch gewachsenen, jungen Mann, der vom Grand Hotel kam.
     
    „Ein wenig erinnert er mich an uns beide!“, gab Mathilda zu.

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