Die langen Schatten der Erleuchtung
Bei dem jungen Mann handelte es sich dem Aussehen nach um einen Europäer oder Nordamerikaner. Haupthaar und Bart waren ungeschoren und struppig und ließen ihn älter wirken. Er ging barfüßig und trug eine orangene Kutte wie die einheimischen Bettelmönche, die Sadhus, die von den Indern allesamt als Heilige verehrt werden, auch wenn sich ihre Weisheit häufig darin erschöpfte, nur die nächste kostenlose Mahlzeit zu ergattern.
„Irgendwie bin ich froh, dass wir an Jojo und Hanif geraten sind“, meinte Hubertus, „sonst würden wir auch noch im Grand Hotel nächtigen und wie der arme Knabe hier weiterhin umherirren und die verschiedenen Meister auskundschaften. So hat die Suche wenigstens ein Ende! Und wenn wir heute Abend wieder in unserer Höhle sind, Mathilda, dann fällt die Meditation aus, und wir lassen mal eine von diesen Flaschen kreisen!"
Der junge Mann war wieder umgekehrt und zum Grand Hotel zurück geschlendert. Er setzte sich auf die Stufen zur Terrasse. Dort kam er mit einem der Einheimischen ins Gespräch und redete eine Weile mit ihm.
Hubertus und Mathilda hatten das Bier ausgetrunken. Hubertus zündete sich noch eine Zigarette an, ehe er den Rucksack mit den Lebensmitteln schulterte. „Na, dann wollen wir mal!“, forderte er Mathilda auf. „Kommt bald wieder, meine Lieben!“, verabschiedete sie Balak jun..
Gemächlich gingen sie die Straße hinauf, die sich bald schon in einen Feldweg verlor und dann als Trampelpfad in den Dschungel führte. Sie ahnten nicht, dass der junge Mann vom Grand Hotel ihnen in einigem Abstand folgte.
Oh Gierschlund, du denkst nicht an den Tod.
Du verbringst deine Zeit damit, Verwandte und Freunde zu unterhalten,
und mit dem Streben nach Reichtum, Besitz und Macht,
ganz gleich, ob du sie brauchst oder nicht.
Niemals zufrieden, wird unser Haften an weltlichem Glück
Eine Kette, die uns an Enttäuschung bindet.
Gendün Gyatso, 2. Dalai Lama
Sommerschlussverkauf oder wie Hanif vom reißenden Strudel der Gier mitgerissen wird.
„Hanif, soll ich dich mit dem Wagen zum Hafen bringen? Ich mache das gerne. Ich habe noch ein wenig Zeit, bevor ich ins Geschäft muss!“ Allen war der ungewohnt milde Ton aufgefallen, den Vera immer vor den Heimspielen von Pauli anschlug, wenn sie mit Hanif sprach.
„Sehr nett, Vera! Doch es ist besser für mich, wenn ich die Strecke zu Fuß gehe. Ich brauche etwas mehr Bewegung. Durch das gute Essen bei euch habe ich ganz schön zugenommen. Wir sind so ein üppiges Leben nicht gewohnt. Wenn ich jetzt noch mit dem Auto fahre, nehme ich bestimmt noch mehr zu!“
Was so vernünftig klang, war in Wirklichkeit der Vorwand, auch schon auf dem Hinweg zum Hafen durch die Herbertstraße zu gehen. Denn Hanif konnte seiner Fleischeslust nicht mehr länger widerstehen, wo sie in Gestalt von Vera nach Jahren der Abstinenz noch einmal an seine Pforte geklopft und wie ein hartnäckiger Vertreter den Fuß zwischen Tür und Angel gestellt hatte. Die wenigen Heimspiele von Pauli konnten sein Verlangen nicht mehr stillen – sie fachten es eher an. Hatte er nach dem ersten Besuch die Herbertstraße noch mit den besten Vorsätzen verlassen, so schlug er schon in den nächsten Tagen wieder den gleichen Weg vom Hafen zurück ins Schanzenviertel ein. Natürlich mit der Ausrede, der Weg am Bismarck-Denkmal vorbei sei zu steil für ihn und schade seinem schwachen Rücken. Und außerdem ist es das Beste, sich der Versuchung Auge in Auge zu stellen und dann standhaft zu bleiben. Alles andere ist nur eine Flucht! , versicherte sich Hanif. Die Versuchung hieß Melinda. In einem schwarzen Korsett, das nur mühsam ihre Üppigkeit bändigte, saß sie mit übereinander geschlagenen Beinen lächelnd auf ihrem Stuhl wie eine Mona Lisa. Hanif war ihr vom ersten Anblick an verfallen. Er blieb jetzt auch nicht mehr bei den anderen Frauen stehen, sondern eierte in seinen Cowboy-Stiefeln über das Kopfsteinpflaster der Herbertstraße ohne Umschweife zum Fenster von Melinda. Dort, aber immer noch in sicherer Entfernung, starrte er sie in stummem Verlangen an.
Ihren Namen hatte er durch ein unscheinbares, älteres Männchen erfahren, das für die Frauen in der Herbertstraße Besorgungen machte. „Melinda“, hatte das Kerlchen gerufen, „brauchst du was? Ich gehe mal zum Supermarkt!“ Und es war ein Schock für Hanif gewesen, Melinda mit einer dunklen, verrauchten Stimme antworten zu hören: „Bring mir was zu lesen mit!“
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