Die langen Schatten der Erleuchtung
Hanif hatte versucht, sich den Namen der Zeitschrift zu merken. Auf dem Nachhauseweg ging er in einen Zeitschriftenladen und verlangte nach dem Titel. Noch mehr verwirrte es ihn, als ihm der Besitzer ein Motorrad-Magazin über den Ladentisch reichte.
Als am nächsten Tag einer der Männer aus der Traube vor ihrem Fenster mit Melinda handelseinig wurde und zu ihr in das Haus ging, spürte Hanif einen Stich in seinem Herzen. Er fühlte sich verraten und gedemütigt. Mit gesenktem Kopf verließ er die Herbertstraße und schwor sich wie ein abgewiesener Liebhaber, nie wieder hierher zu kommen. Doch sein Verlangen ließ ihm keine Ruhe, und schon am nächsten Morgen war er wieder auf dem Weg zu Melinda. Im Zeitschriftengeschäft fand Hanif noch ein anderes Motorrad-Magazin mit vielen Abbildungen der schweren Maschinen. Sein Herz hüpfte aufgeregt, als er mit seinem Geschenk die Herbertstraße betrat. Wie ein schüchterner Verehrer hielt er die Illustrierte hinter seinem Rücken wie einen Strauß Rosen für die Angebetete, als er sich dem Fenster von Melinda näherte. Melinda saß da wie immer - rätselhaft, still und strahlend schön in ihrem geschnürten, schwarzen Korsett. Ihre Terrassentür war weit geöffnet, und Hanif erstarrte, als er ihren Reizen das erstemal ohne jede Barriere ausgesetzt war. Er nahm allen Mut zusammen, trat an sie heran und reichte ihr ohne ein Wort das Magazin. Melinda nahm die Illustrierte mit der nachsichtigen Liebenswürdigkeit einer Frau entgegen, die es gewohnt ist, von den Männern mit Geschenken überhäuft zu werden. Hanif machte abrupt auf dem Absatz kehrt und stürzte davon. Sein Herz pochte in wilden Schlägen und jagte das Blut durch seine Adern.
„Am Montag beginnt der Sommerschlussverkauf“, erklärte Jutta beim Abendbrot, „das ist eine günstige Gelegenheit, euch einmal neu einzukleiden! Hanif wird langsam zu dick für seine Latzhose! Ich will mir auch einen neuen Badeanzug und ein paar Blusen besorgen. Wir können zusammen gehen! Aber wir müssen dann früh aufstehen, mein Jojochen, damit wir mit die Ersten sind!“
„Ich komme auch mit“, meldete sich Marlies, „Harald braucht dringend noch ein paar neue Hemden und Hosen! Sonst noch jemand? Je mehr wir sind, desto besser können wir uns bei dem Gedränge durchsetzen!“
Vera winkte müde ab: „Wisst ihr nicht, dass dieser Mist extra für den Sommerschlussverkauf produziert wird?! Von Kindern in den Ländern der dritten Welt, die für´n Appel und´n Ei zehn Stunden arbeiten?! Nein, danke! Da stricke ich mir meine Pullover lieber selbst!“
„Ich könnte zur Abwechslung gut mal eine bunte Jacke gebrauchen“, sagte Gary und blickte strahlend von seinem Leberwurstbrot auf, „ich bin dabei! Vielleicht kommt auch meine Lissy mit, ich muss nachher noch einmal kurz mit ihr telefonieren!“
Tatsächlich hatte der paralysierte Stromzähler Garys verschüttetes Charisma soweit wieder reanimiert, dass er sich am Abend nach der geglückten Mission seit langem wieder einmal in die Musikkneipe um die Ecke traute. An der Bar setzte er sich gleich neben die Punkerin Lissy, legte routiniert seinen frisch gebräunten Arm auf den Tresen und sagte: „Haben wir uns nicht schon mal irgendwo gesehen?!“
„Näh Alder, das wär´ mir echt aufgefallen – deine Farbe, verstehste? Sieht aus, als wärste in´n Kackeimer gefallen, aber die Kombination mit den Haaren is´echt krass, Digger …. – Haste Lust abzurocken, ey Digger? Komm!“
Und ehe Gary sich´s versah, hatte Lissy ihn auf die schummrige Tanzfläche gezerrt, wo allerlei schrille Zugvögel zur stampfenden Musik Verrenkungen aufführten, als wollten sie jeden Augenblick zum gemeinsamen Flug zu ihren Brutplätzen in den heißen Süden aufbrechen. Als Gary auf dem Weg zum Tresen wie selbstverständlich den Arm um Lissys Hüfte legte, war für beide die Sache gebongt: Sie waren ein Paar.
Das Telefon im Flur neben Käthchens Zimmer stand in den nächsten Tagen nicht mehr still, und man hörte Käthchen ständig schreien: „Gary, das Telefon!“ Lissy arbeitete im Büro der Spedition Wenzel & Menzel und rief ihren Lover nun täglich mehrmals an.
Wie vereinbart, waren sie alle früh aufgestanden. Nun warteten sie schon länger als eine halbe Stunde vor dem Haupteingang des Kaufhauses. Aber sie waren nicht die ersten – vor ihnen schnatterte eine dichtgedrängte Menge vielsprachig wie beim Turmbau zu Babel. Geschickt drängte
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