Die langen Schatten der Erleuchtung
„Wisst ihr“, erklärte Jojo später in der Küche den anderen, „für uns ist das kein ungewöhnlicher Zustand. In unserer Heimat stellen wir Menschen mit Liebeskummer eine Kleinigkeit zu essen und etwas zu trinken hin und lassen sie ihren Schmerz fühlen! Aber vielleicht ist das bei euch ja eine Krankheit, und man muss einen Arzt kommen lassen?!“
„Ich gehe noch mal hoch und werde mit ihm reden!“, meinte Marlies. Sie folgten ihr alle und blieben an der offenen Tür wie vor einem Gehege stehen. Nun setzte sich auch Jutta zu Gerhard aufs Bett: „Es tut uns leid für dich, Gerhard, dass Lissy abgehauen ist. Wir konnten es ihr nicht ausreden und sie auch nicht halten. Wir haben alle auch schon mal Liebeskummer gehabt. Glaube uns, das geht vorbei! Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Und Lissy ist nicht die einzige Frau auf der Welt, …es gibt noch tausend andere für dich!“
„Du hast ja recht, Marlies“, sprach Gerhard zur Freude aller urplötzlich, „aber nenne mich nicht mehr Gerhard - denn ich bin Gary. Es gibt keinen Gerhard mehr, dem dein Trost etwas bedeuten könnte!“
„Also, auf mich wirkt das geradezu autistisch“, meinte die Psychiaterin Lore Swoboda-Schimmelpfennig vom Sozialamt, „aber nur durch Liebeskummer ausgelöst - das ist mir noch nicht vorgekommen! Außerordentlich interessanter Fall! Und sonst war er immer mitteilsam? - Wir sollten das noch ein paar Tage im Auge behalten. Er kann ja nicht für alle Ewigkeit auf dem Bett sitzen bleiben!“
Gerhard konnte. Von den Speisen, die man ihm hinstellte, aß er nur das Obst und trank das Mineralwasser. Sie hörten ihn auch zur Toilette gehen, doch sonst verließ er sein Zimmer nicht. Und wenn sie ihn besuchten, saß oder lag er stumm auf seinem Bett.
„Wie gesagt, ein außerordentlich interessanter Fall“, erklärte Lore Swoboda-Schimmelpfennig bei ihrem nächsten Besuch, „…ist auch für mich völlig neu. Ganz und gar untypisch – die Symptome. Aber es ist ja nicht verboten, sich so zu verhalten. Ich will ´mal versuchen, mit ihm zu reden.“ Sie setzte sich auf die Bettkante. „Gary“, begann sie, „können wir irgend etwas für dich tun?“ Sie blickte dabei Gary fest in das rechte Auge, wie sie es auf ihrem Fortbildungsseminar am Wochenende bei Dr. Stefan Dürrig erlernt hatte.
„Ich habe dieses Verfahren eigentlich aus eigener Not entwickelt“, hatte Dr. Dürrig den Seminarteilnehmern leutselig anvertraut, während er sich mit der linken Hand über seine gepflegte Halbglatze strich, „da ich natürlich selber mit der Problematik des Blickkontakts zum Patienten mehr als vertraut bin. Und ich gestehe Ihnen unumwunden, dass ich häufiger der Unterlegene in diesen Duellen war. Denn wir haben ja, weiß Gott, keine einfachen Klienten. Doch ich habe die Lösung gefunden. Und ich will sie mit Ihnen teilen. Sie haben für dieses Seminar eine ordentliche Stange Geld bezahlt“, gestand Dr. Dürrig mit offener Unverschämtheit, „doch ich versichere Ihnen, … ja, ich garantiere Ihnen, wenn Sie dieses Seminar in ein paar Stunden verlassen, dann sind Sie um ein paar Tausender, aber auch um ein Problem ärmer! Das ist doch ein faires Geschäft?“
An dieser Stelle hatte Dr. Dürrig in die Runde geblickt, und Lore Swoboda-Schimmelpfennig hatte zustimmend genickt und dann den Blick gesenkt. „Also“, war Dr. Dürrig fortgefahren, „hören Sie mir jetzt nur für eine Minute gut zu: Nach meiner Methode dürfen Sie Ihrem Klienten immer nur in EIN Auge zurzeit blicken! Ja, … Sie haben richtig gehört! Schauen Sie mich an und versuchen Sie es! In EIN Auge! Sagen wir einmal das rechte! Sie schauen also Ihrem Klienten, - oder auch Ihrem Vorgesetzten…“, an dieser Stelle war Dr. Dürrig in ein gehässiges Gelächter ausgebrochen, „…Sie blicken also Ihrem Gegenüber frohgemut in das rechte Auge! Sie werden feststellen, dass es eine ungeheure Erleichterung ist, seinem Gesprächspartner nur in ein Auge blicken zu müssen, da man es besser fixieren kann. Nach einer angemessenen Zeit lassen Sie Ihren Blick etwas umherschweifen, um dann bei der erneuten Aufnahme des Blickkontaktes, nun das andere Auge zu fixieren. In unserem Beispiel das linke eben! - Das ist alles, liebe Kolleginnen und Kollegen!“
Ein ungläubiges Raunen war durch die Runde der Teilnehmer gegangen. „Und jetzt kommen Sie bitte nacheinander an meinen Schreibtisch, setzen sich mir gegenüber und probieren Sie es
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