Die langen Schatten der Erleuchtung
habe keine Furcht vor der Antwort! Erst dann kannst du neu beginnen! Du solltest es dir zur Gewohnheit machen, den allerersten Gedanken am Morgen in eine vollkommen neue Richtung zu lenken, als du es gewohnt bist. Das richtige Leben wartet auf dich! Mit deiner Marlies!“
„Das ist ganz schön dahergeredet von dir und gut gemeint, Jojo! Aber die klugen Ratschläge nutzen mir nichts - für mich ist eine Welt zusammengebrochen! Alles, woran mein Herz hängt, haben sie mir genommen! - Kannst du das nicht verstehen, Jojo!? Hast du denn nichts, an dem dein Herz hängt?“
„An nichts, Harald! Doch dieses Nichts umfasst alles. – Tu, was immer du willst, aber höre auf, im Labyrinth deiner alten Gedanken wieder den Anfang zu suchen! Beginne etwas Neues!“
„Du könntest doch vielleicht beim Gartenbauamt anfangen“, versuchte Hanif zu vermitteln, „es braucht ja nicht unbedingt auf dem Friedhof sein! Wenn du denn unbedingt arbeiten willst!“
„Hanif, ich war Handlungsbevollmächtigter bei der Deutschen Assekuranz! Ich war wer! Ich habe ´was dargestellt! Ich war stolz auf mich! Und jetzt bin ich ein Versager! Guck mich doch an!“
„Für mich nicht, mein Schatz!“, legte ihm Marlies tröstend eine Hand auf den Arm. „Für mich warst und bist du immer mein Harald, egal, ob als Handlungsbevollmächtigter oder einfacher Sachbearbeiter. Oder so wie jetzt! Und das wirst du auch immer bleiben!“
„Das ist lieb von dir, Marlies! Aber ich habe vor mir selbst keine Achtung mehr! Ich kann mir selbst nicht mehr in die Augen schauen. Das ist es! Ich verachte mich!“
„Was du jetzt als die größte Katastrophe deines Lebens betrachtest, Harald, ist gleichzeitig die Möglichkeit, dein Leben neu auszurichten. - Du bist zu beglückwünschen!“
Solange es dir Vergnügen bereitet,
dich mit abweichendem Verhalten
oder abnormen Geisteszuständen zu beschäftigen,
ist es unwahrscheinlich, dass du jemals
dein eigenes Bewusstsein verändern wirst.
Jan Cox
Der Schreiter oder wie Gary die schwarze Nacht der Seele erfährt.
Gerhard fand den Brief auf seinem Tisch, als er erst spät von der Arbeit nach Hause kam: „Alter! Du wirkst auf mich wie diese Rap-Musik - immer das gleiche! Ich brauche mal wieder Abwechslung! Sei ehrlich! Bei uns ist die Luft ´raus! Mach´s gut! Lissy.“
Gerhard konnte es nicht glauben und starrte wie betäubt auf die lieblos hingeschmierten Zeilen. Wie so´ne Notiz von seinem Lager-Viez: „Drei Paletten Klopapier auf die Rampe“. Kein Wort zuviel. Gerade hatte der Chef seinen Stundenlohn erhöht. Endlich mal… das hab´ ich schon lange verdient! Lissy kann doch wirklich stolz auf mich sein. Und nun das. Aus heiterem Himmel. Ohne Ankündigung. Wir haben uns nicht mal gestritten. Hab´ ich zu viel gearbeitet und mich zu wenig um sie gekümmert? Seine Gedanken irrten im Kreis umher. Er wusste keine Antwort.
Ohne seine Sonnenbank war bei Gerhard rasch der Lack ab. Nach und nach war unbemerkt die Farbe von seiner paradiesischen Verkleidung abgeblättert. Er wirkte wie ein blasser Pfau, dem man die Schwanzfedern gerupft hatte. Nur noch ein unansehnlicher Vogel mit einer krächzenden Stimme. Er kam sich nichtssagend vor – ein öder Langeweiler.
Gerhard machte den Kleiderschrank auf. Ihre Sachen waren weg. Scheiße. Deswegen hab´ ich auch niemanden in der Küche getroffen. Sie sind mir einfach aus dem Weg gegangen. Nur der doofe Hanif hat wohl nichts mitbekommen und mit mir ´rumgeblödelt, als er durch den Garten kam.
Gerhard war nicht wütend, noch nicht einmal eifersüchtig. Er war einfach nur fertig. Restlos. Er legte sich aufs Bett und streckte den Arm dorthin, wo sie sonst gelegen hatte. Dann drehte er sich wie ein waidwundes Tier auf die Seite und zog die Beine an.
* * *
Am nächsten Tag ging er nicht mehr zur Arbeit. Marlies klopfte an seine Tür und rief besorgt: „Bist du krank, Gerhard?“ Als sie keine Antwort bekam, öffnete sie die Tür. Er saß im Bett und hatte sich mit dem Rücken an das hölzerne Kopfteil angelehnt und starrte blicklos ins Leere… durch Marlies hindurch. „Jojo“, rief sie nach unten, „komm doch mal bitte!“
Jojo setzte sich neben Gerhard aufs Bett und legte eine Weile die Hände auf seinen Kopf. Er schloss die Augen und summte vor sich hin, wie man ein Baby mit einem Gutenachtlied in den Schlaf wiegt.
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