Die langen Schatten der Erleuchtung
gefragt.
„Einbildungen bleiben Einbildungen, auch, wenn alle Welt sie mit feierlichen und ruhmvollen Namen und Titeln als Realität verkaufen will. Wann lässt sich ein Mensch auf die Rolle eines Meisters ein, Harald?“
„… wenn er einen Schüler annimmt, Jojo!“
„So ist es - du hast es begriffen, Harald! Und jetzt bleibe so wach! Du kennst das Geheimnis schon: Alle Dinge sind so, wie sie sind. Deine Gedanken fügen dem nichts hinzu und nehmen ihnen auch nichts hinweg. Belasse es dabei und genieße dein Leben! – Als du noch bei deiner Firma warst, hast du dich da nicht ständig auf die ´Freizeit` gefreut?! Nun hast du Freizeit mehr als genug und fragst dich: Wie soll ich die Zeit ausfüllen oder sie totschlagen?! Mache es nicht wie die anderen, die sich Geschichten über Geschichten ohne Ende erzählen … von Göttern, Helden, bedeutenden Menschen, Filmstars, Politikern – Geschichten aus der Vergangenheit und Fantasien über die Zukunft. Harald, das ist eine aus Worten erbaute Traumwelt, die allen als ganz real erscheint. Doch es sind Gedankengebäude, in denen Figuren leben, die mit nichts anderem angefüllt sind als mit Worten. Und so viele Worte jeden Tag in den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen… - Wenn ich dir das jetzt sage, stimmst du mir wahrscheinlich sogar zu, weil es so offensichtlich ist. Du zuckst mit den Schultern und sagst ´Na und? `, und in einer Stunde wirst du alles wieder vergessen haben…“
Dann war Harald aufgestanden und in das Cafe Lindeblüte gegangen.
„Hanif?“
„Ja, Meister Jojo!“
„Hanif, ich will es kurz machen: Es ist an der Zeit, dass du nun ganz und gar auf eigenen Beinen stehst. Sieh die Rolle des Schülers und die Rolle des Meisters als ein nützliches Konzept an, das nun ausgedient hat!“
„Ist okay, Jojo!“
Harald saß nun die meiste Zeit des Tages im Cafe Lindenblüte bei reichlich Bier und Weinbrand und trank auf Käthchens Kosten. Bei schönem Wetter saß er draußen an einem der Tische. Er hatte sich von dem Tage seiner Zwangspensionierung an nicht mehr rasiert und trug jetzt einen ungepflegten Bart, der mit grauen Strähnen durchsetzt war. Sein schütteres Haar ließ er ebenso wachsen, und er glich einem Hippie aus grauen Vorzeiten, der seinen Absprung verpasst hatte. Er hatte auch zu rauchen begonnen und ließ sich von der Kellnerin Zigarren bringen. Alle Bitten von Marlies, dieses unsolide Leben wieder aufzugeben, waren vergeblich. „Gib ihm noch etwas Zeit zu trauern“, riet ihr Jojo, „vielleicht findet er dann von alleine wieder zurück!“
Es war um die Mittagszeit eines schönen Herbsttages. Harald saß schon wieder reichlich angesäuselt bei Weinbrand und Bier und qualmte großkotzig eine Zigarre, als Dr. Kicoka von einem Hausbesuch am Cafe Lindenblüte vorbeikam. Er wollte gerade die Straße überqueren, als er plötzlich an Haralds Tisch stehen blieb: „Wie siehst du denn aus?!“, herrschte er den angetrunkenen Harald an, „du kommst sofort mit in meine Praxis, ich lasse mir doch nicht meine Arbeit versauen!“
„Nun mal langsam, alter Medizinmann!“, lallte Harald.
„Ich muss dir doch keine Gewalt androhen, oder? Du kennst doch die Geschichte mit Tarzan?! Los, komm jetzt mit. Je schneller, umso eher hast du es hinter dir!“ Dr. Kicoka half Harald aufzustehen, reichte ihm dann seine Arzttasche, während er ihn einhakte und ihn so zu seiner Praxis geleitete.
„Muss ich wieder dieses fürchterliche Gesöff trinken?“
„Ja, ein altes koreanisches Hausmittel. Aber ich habe es seit dem letzten Male stark verbessert! Du wirst sehen!“, kicherte Dr. Kicoka.
Frau Kluge geleitete Harald auf die Toilette und reichte ihm den Schierlingsbecher. Halbherzig wollte Harald noch einmal protestieren, doch dann ergab er sich in sein Schicksal und trank den Becher bis zur Hälfte leer.
„Ja“, meinte Frau Kluge, „das ist keine Spätlese, aber dafür hilft es! Und alles austrinken, jetzt!“
Harald trank den Rest und schüttelte sich: „Abscheulich...brrrr..!“
Nach fünf Minuten begann er sich geräuschvoll zu erbrechen. Oma Petersen, eine putzmuntere und gesunde Greisin von fast 90 Jahren meinte im Wartezimmer: „Operiert der Doktor wieder?“ Oma Petersen kam jeden Tag in Dr. Kicokas Praxis und vertrieb sich dort mit dem Einverständnis von Frau Kluge die Zeit. Sie las dort die neuesten Illustrierten und löste die Kreuzworträtsel, bis
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