Die langen Schatten der Erleuchtung
es Zeit fürs Mittagessen war. Sie hatte das Wartezimmer für sich in eine Art Bücherei umfunktioniert. Und sie war brennend an den Krankheitsgeschichten anderer Leute interessiert; sie selbst hatte keinerlei Beschwerden. Das Behandlungszimmer von Dr. Kicoka hatte sie noch nie betreten. „Um so besser“, meinte der, „wenn wir sie so gesund und aktiv halten!“
Als Harald nach einer halben Stunde die Toilette verließ, sah er erschöpft aus. Kalter Schweiß bedeckte sein Gesicht. Seine Haare klatschten ihm am Schädel. Er war ein alter Mann.
„Na, siehst du, das hast du schon mal geschafft“, munterte ihn Dr. Kicoka auf, der ihm eine kleine braune Flasche reichte, „davon nimmst du am Abend einen Schluck, damit du heute Nacht gut schlafen kannst. Und wenn du morgen wiederkommst, dann bist du gut rasiert und hast die Haare ordentlich geschnitten. In einer Woche hast du es hinter dir. Und dann kommt unser anderes Thema dran. Du weißt schon, die Hengstparade!“
Ein Erleuchteter, der sich vom Staub befreit,
ist noch weit entfernt vom Buddha-Hain.
Der Besuch eines Bordells verleiht eine tiefe Weisheit.
Meister Ikkyu
Veras Selbstmordversuch oder wie eine schicksalhafte Begegnung alles verändert.
„Jojo und Hanif, das nächste Heimspiel von Pauli findet bei Fluchtlicht statt“, erklärte Harald den beiden, „das ist etwas ganz Besonderes!“
„Was ist denn Flutlicht?“, fragte Hanif.
„Die spielen im Dunkeln, aber mit Beleuchtung!“
„Und warum spielen sie nicht im Hellen?“
„Weil sie den Fans auch mal ´was Besonderes bieten wollen!“
„So wie ein Laternenfest?“
„Hör bloß auf mit deinen Kindereien, Hanif! Nach dem Spiel gibt es noch einen drauf: Dann ziehen wir über den Kiez bis zum nächsten Morgen. Und anschließend geht es gleich auf den Fischmarkt! Das wird ein echtes Erlebnis für euch!“
Als es dann so weit war, sagte Vera kurzfristig ab: „Ich komme nicht mit, ich fühle mich nicht wohl! Tut mir leid, Kinder, aber mir steckt wohl ´was in den Knochen. Ich muss ´mal richtig ausschlafen!“ Alle Überredungskünste halfen nichts. Vera wollte einfach nicht! Gary brauchten sie gar nicht erst zu fragen. Er hatte auch an diesem Tag wieder das Schanzenviertel abgeschritten und vermessen. Als er nach Hause kam, langte er in der Küche kräftig zu. Schon bei seinem letzten Bissen gähnte er herzhaft und ging dann auf sein Zimmer.
So waren sie nur noch zu sechst. Harald hatte noch einmal Käthchens sechsrädrigen Laufwagen für diesen Ausflug aktiviert. Schon bei den letzten Spielen konnten sie auf ihn verzichten, da sie ohne Käthchens Speisung mit zwei Rucksäcken auskamen. „Doch es kann sein“, erklärte Harald weitsichtig, „dass der eine oder andere von uns etwas vom Fischmarkt mitnehmen will. Und dann ist es gut, wenn wir den Wagen dabei haben!“ Giaccomo wechselte noch die Batterien an der Beleuchtung des Wagens aus, ehe es losging.
Unterwegs meinte Marlies: „Seit dem Tod von Käthchen ist Vera nicht mehr die gleiche. Sie ist irgendwie lustlos geworden. Wenn ich da an früher denke! Und ein Spiel unter Fluchtlicht mit anschließendem Reeperbahn-Bummel und Fischmarkt hätte sie sich nie entgehen lassen!“
„Ich glaube, der Zusammenbruch der Sowjetunion hat ihr ganz schön zu schaffen gemacht!“, meinte Jutta.
„Ach, das wird schon wieder werden!“, wollte sich Harald die ausgelassene Stimmung nicht verderben lassen. Dank Dr. Kicoka und seiner Behandlung war er schon seit einigen Wochen wieder trocken und rauchte auch nicht mehr. Dies war sein erster Ausflug nach der Behandlung. Harald hatte sich den Bart wieder abgenommen und war glatt rasiert. Seine Haare trug er jetzt kurz und versuchte auch nicht mehr, seine beginnende Glatze zu kaschieren. Seine schwere Buchhalterbrille hatte er gegen ein randloses Modell ausgetauscht, und die weißen Oberhemden, den Nadelstreifen und sämtliche Schlipse in die Altkleider-Sammlung gegeben. Er kleidete sich nun ausgesprochen leger - fast jugendlich - und trug rote Turnschuhe. „Du neigst ein wenig zu Extremen“, hatte ihn Dr. Kicoka aufgeklärt, „du hast deine Arbeit immer viel zu ernst genommen, weil du dich selbst zu wichtig nimmst. Tritt einfach ´mal ein wenig zur
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