Die Lanze des Herrn
sollten, blieben unter der Nummer XL 24578-B in der Obhut des jeweiligen Direktors der Sammlungen.
Im Jahr 2006 nach christlicher und 5766 nach hebräischer Zählung ließ Kardinal Lorenzo, inzwischen selbst Direktor der Sammlungen geworden, die Pergamente aus dem Archiv holen, um sich an die Übersetzung zu machen. Er war jedoch so sehr mit Arbeit überlastet, dass er schließlich Judith damit betraute. Einige Rollen waren an Pater Jean-Baptiste Fombert, der ein Spezialist für die Qumran-Pergamente war, zur Bibelschule in Jerusalem geschickt worden.
Die Texte stellten sich als sehr kompliziert heraus. Offenbar waren sie ursprünglich auf Griechisch verfasst worden. Ungefähr zur selben Zeit oder vielleicht ein wenig später hatte man zwischen die Zeilen in winziger Schrift eine hebräische und aramäische Fassung eingefügt. Es waren simple Übersetzungen, die aus dem Pergament eine Art Rosetta-Stein machten. Es handelte sich um einen apokalyptischen Text, ähnlich dem des Apostels Johannes, in dem von der bevorstehenden Wiederkehr des Messias und dem letzten eschatologischen Kampf zwischen Gut und Böse die Rede war.
Es war inzwischen ein halbes Jahr her, dass Judith ihren ersten Bericht vorgelegt hatte. Aufgrund ihrer Ergebnisse hatte sich der Vatikan entschlossen, in Megiddo Ausgrabungen vorzunehmen. Denn auf diese Stadt nahmen die Pergamente des Longinus ausdrücklich Bezug. Offenbar gab es Neuigkeiten. Hatten die Archäologen etwas entdeckt? Aber warum klang Dino Lorenzos Nachricht so besorgt? Und warum sollte Judith gleich heute früh in sein Büro kommen?
Die junge Frau runzelte die Stirn. Dann nahm sie ihre Brille ab und legte die Nachricht wieder in ihre Mappe zurück. Sie stand auf, bekreuzigte sich rasch und sah auf die Uhr.
Es war Zeit, zu ihrem Mentor zu gehen.
♦♦♦
Das ist sie… Die Schicksalslanze!
Oh mein Gott, ich glaube, sie ist es tatsächlich.
Enrico Josi, Direktor des vatikanischen archäologischen Instituts, machte sich in seinem kleinen Heft Notizen. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Er war fasziniert. Unglaublich… das ist wirklich unglaublich, sagte er zu sich selbst. Ab und zu wischte er sich die feuchten Handflächen an seinem beigefarbenen Hemd ab. Die Hitze war zum Ersticken.
Er befand sich in Megiddo, am Rande der Ebene von Estrelon, auch Ebene von Jesreel genannt, elf Meilen westlich vom Berg Tabor. Im Norden lag die Stadt Nazareth und im Osten der Hügel Moreh. Früher hatte die Stadt an einer strategisch wichtigen Stelle an der Handelsstraße Via Maris gelegen. Megiddo gehörte zu den Orten Israels mit den bedeutendsten archäologischen Funden. Hier waren die Stallungen von König Salomon entdeckt worden, und Megiddo konnte durchaus mit den Überresten der rituellen Bäder von Massada, der Schönheit der Stadt Davids oder der Synagogen am Toten Meer mithalten. Auf einer Fläche von fünf Hektar waren bei Grabungen die Ruinen von zwanzig übereinanderliegenden Städten entdeckt worden. Die jüngste Schicht stammte aus dem Jahr 400 v. Chr. Auf dieser berühmten Ebene sollte den Weissagungen zufolge der letzte Kampf, die Apokalypse, das Armageddon stattfinden. »Ar« stammt von »har«, dem hebräischen Wort für Berg. »Mageddon« verweist auf die Ortschaft Megiddo. ›In diesem Augenblick sah ich aus dem Schlund des Drachen, des Tiers und aus dem Mund des falschen Propheten drei unreine Geister herauskommen‹, heißt es im Buch der Offenbarungen. Und diese unreinen Geister würden am Ende der Zeiten ihre Heerscharen an dem Ort mit dem hebräischen Namen Har-Mageddon versammeln.
Enrico Josi war ganz allein in der Kapelle. Seit zwei Wochen arbeitete er hier, doch seine Begeisterung hatte sich noch nicht gelegt. Judith Guillemarches Gutachten über die beim Leichnam des Templers gefundenen Schriftrollen hatte ihn veranlasst, an dieser Stelle zu graben, natürlich nicht ohne Zustimmung des Papstes. Die höchst empfindlichen Originalpergamente waren in den Archiven des Vatikans geblieben. Josi verfügte nur über Reproduktionen, doch die genügten ihm. Es war wirklich phantastisch, was das Team ans Tageslicht gebracht hatte.
Bisher hatte man immer geglaubt, die Lanze des Longinus befinde sich in der Wiener Hofburg. Überall auf der Welt bewahrte man Reliquien auf, vom Schienbein der hl. Petronilla bis zum Schlüsselbein des hl. Anselm, und was davon echt und was Legende war, war kaum noch feststellbar. Wenn die Lanze in der Hofburg nicht die echte war… Enrico
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