Die Lanze des Herrn
Josi hatte sich die folgende Frage gestellt: War die echte Lanze irgendwo an einem geweihten Ort vergraben, vielleicht in Har-Mageddon, wie es die Pergamente nahelegten? Derselbe Ort spielte auch eine Rolle in der Offenbarung des Johannes. War der in griechischer Sprache verfasste Bericht auf der Pergamentrolle das Zeugnis des römischen Legionärs, der auf Golgatha Jesu Seite durchbohrt hatte? Nach dem augenblicklichen Stand der Dinge konnte man es nur vermuten. Aber es stand außer Zweifel, dass es sich lohnte, der Sache auf den Grund zu gehen. Die vielen Übereinstimmungen waren höchst beunruhigend. Und was war von den hebräischen und aramäischen Texten zwischen den Zeilen zu halten?
Enrico Josi hatte Judiths Bericht so oft gelesen, dass er ihre Zusammenfassung des Ergebnisses so gut wie auswendig konnte.
»Die Pergamente sind zu stark beschädigt, weshalb ihr Sinn nicht zur Gänze rekonstruiert werden konnte. Da es sich aber um messianische und apokalyptische Schriften handelt, könnte es einen Bezug zur Lehre der Essener von Qumran geben. Die eingefügten hebräischen und aramäischen Texte spielen auf das Armageddon und auf den Beginn der letzten Schlacht an, von der in der Offenbarung des Johannes die Rede ist. Das verwendete Vokabular, das auf den Krieg zwischen den »Söhnen des Lichts« und den »Söhnen der Finsternis« verweist, ist ebenfalls dem der Essener verwandt. Einer ihrer Propheten soll vorausgesagt haben, dass sich im Jahr 5766 des hebräischen Kalenders Gut und Böse einen erbarmungslosen Kampf liefern, um in den Besitz einer geheimnisvollen Waffe zu kommen, eines Schwertes, einer Lanze oder eines Speers. Das Jahr 5766 entspricht dem Jahr 2006 unserer Zeitrechnung. Der Funke des endzeitlichen Kampfes soll, noch immer laut dem Pergament, an einem ganz bestimmten Ort, nämlich in Megiddo entzündet werden. (Vgl. Anhang 7)«
Enrico Josi wurde von Damien Seltzner begleitet, einem 35-jährigen französischen Archäologen, von Pater Ungaro, einem der Mitarbeiter Jean-Baptiste Fomberts an der Biblique et Archéologique in Jerusalem, und von zwei israelischen Forschern. Kaum hatte sich das Team, den Anweisungen des Testaments folgend, an die Arbeit gemacht, entdeckte man auf dem Hügel, ungefähr fünfundzwanzig Meter über der frühesten Siedlung, eine felsige Kuppel. An deren Rand legte man eine kleine Öffnung frei, durch die ein erwachsener Mann gerade eben hindurchpasste, wenn er sich bückte.
Man hatte Arbeiter aus der Gegend engagiert, die in weißer Tunika oder Djeballah und mit Schaufeln und Hacken ausgerüstet kamen. Drei israelische Soldaten waren für die Sicherheit zuständig. Auf einem Tisch standen Laptops, auf deren Bildschirmen der Umriss des Heiligtums zu sehen war. Etwas weiter entfernt war eine Antenne aufgebaut zur Übertragung der von den Wissenschaftlern erarbeiteten Daten. Natürlich waren alle Verbindungen gesichert, dafür war einer der israelischen Soldaten zuständig, der ein Fachmann auf diesem Gebiet war. Das Team arbeitete unter größter Geheimhaltung. Das Gelände war zur Sicherheitszone erklärt worden. Mit biblischen Schätzen war nicht zu spaßen. Am Eingang des Grabungsgeländes standen zwei Jeeps und ein Lastwagen mit Plane. Nachdem man den Eingang zu der alten Kapelle entdeckt hatte, musste ein schmaler Gang freigelegt werden, der etwa zehn Meter in die Tiefe ging. Man hatte ihn auf seiner ganzen Länge mit Spotlights ausgestattet. Am Ende des sonderbaren Korridors war man auf eine gemauerte Wand gestoßen, die man mit der Spitzhacke durchbrochen hatte. Sie war mit eingeritzten Zeichen versehen, die eine Warnung zu sein schienen. Der Weg dahinter erwies sich als noch schwieriger. Nachdem man über den Schutt der Mauer geklettert und durch ein Felsgewölbe gekrochen war, gelangte man endlich auf die andere Seite.
Dort hatte sich tatsächlich die Kapelle befunden.
Die ersten Berichte und Fotos waren zwei Tage zuvor an Dino Lorenzo geschickt worden. Nach den verschiedenen Ruinenschichten der Stadt zu urteilen, gehörte diese Stelle, die ziemlich weit oben lag, zu der jüngsten Siedlung.
Enrico Josi setzte seine Arbeit in der Kapelle fort und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Außer seinem Notizbuch hielt er eine Stablampe in der Hand, was ihm das Schreiben nicht gerade erleichterte. Die Kapelle maß etwa zwanzig Quadratmeter. Das Gewölbe war grob in den Fels gehauen. Über den steinigen Boden gelangte man zu einer Wand mit einem beschädigten Bogen.
Weitere Kostenlose Bücher