Die Larve
telefonierte. Auf der anderen Seite des Hinterhofs saß eine Frau am Küchentisch und sah schläfrig, aber mit wachsendem Interesse zu ihm herüber, während sie ihr Brot aß.
»Hans Christian hat das erst erfahren, als er vor einer Viertelstunde in die Kanzlei gekommen ist«, sagte Rakel am Telefon. »Sie haben Oleg gestern am späten Nachmittag entlassen. Irgendein anderer hat den Mord an Gusto gestanden. Ist das nicht phantastisch, Harry?«
Doch, dachte Harry. Es war phantastisch. Wie in »nicht zu glauben«.
»Weißt du, wer da ein Geständnis abgelegt hat?«
»Ein gewisser Chris Reddy alias Adidas. Auch einer aus dem Drogenmilieu. Er hat Gusto erschossen, weil er ihm Geld für Amphetamin schuldete.«
»Und wo ist Oleg jetzt?«
»Keine Ahnung. Wir haben nur erfahren, dass er frei ist.«
»Denk nach, Rakel! Wo kann er sein?« Harrys Stimme klang strenger als beabsichtigt.
»Was … was stimmt denn nicht?«
»Das Geständnis … das stimmt nicht, Rakel.«
»Wieso?«
»Ja verstehst du denn nicht? Das ist gefakt, erfunden!«
»Nein, nein. Hans Christian sagt, es sei detailliert und sehr glaubwürdig. Deshalb haben sie Oleg ja auch gehen lassen.«
»Dieser Adidas gibt an, Gusto erschossen zu haben, weil er ihm Geld schuldete. Also ein eiskalter, zynischer Mörder. Und der soll dann plötzlich ein schlechtes Gewissen bekommen und einfach gestanden haben?«
»Vielleicht weil er erkannt hat, dass ein Unschuldiger verurteilt werden würde …«
»Vergiss es! Ein verzweifelter Drogenabhängiger hat nur eine Sache im Kopf: Stoff. Da gibt es keinen Platz für schlechtes Gewissen, glaub mir. Dieser Adidas ist ein abgebrannter Drogenabhängiger, der für eine entsprechende Entschädigung mehr als bereit war, einen Mord zu gestehen und dieses Geständnis dann, sobald die Hauptperson entlassen worden ist, wieder zurückzuziehen. Siehst du denn nicht, was die beabsichtigen? Wenn die Katze kapiert hat, dass sie nicht zu dem Vogel in den Käfig kommen kann …«
»Hör auf!«, rief Rakel, plötzlich unter Tränen.
Aber Harry hörte nicht auf: »… muss der Vogel aus dem Käfig.«
Er hörte sie weinen. Wusste, dass er vermutlich nur ausgesprochen hatte, was ihr selbst schon gedämmert war, sie aber nicht wirklich zu denken gewagt hatte.
»Kannst du mich nicht beruhigen, Harry?«
Er antwortete nicht.
»Ich will keine Angst mehr haben«, flüsterte sie.
Harry holte tief Luft. »Wir haben das schon mal geschafft, wir schaffen das wieder, Rakel.«
Er legte auf. Und stellte wieder einmal fest, was für ein hervorragender Lügner er war.
Die Frau im Fenster auf der anderen Seite des Hofes winkte ihm langsam mit drei erhobenen Fingern zu.
Harry fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
Jetzt kam es also nur noch darauf an, wer Oleg als Erster fand, er oder die.
Denken.
Oleg war gestern Nachmittag entlassen worden, irgendwo im Osten des Landes. Ein Drogenabhängiger auf Entzug, der dringend Violin braucht. Vermutlich war er sofort nach Oslo gefahren, zur Plata, wenn er nicht irgendwo ein Versteck mit einer Notreserve hatte. In die Hausmanns gate kam er nicht, der Tatort war noch immer verschlossen. Wo also sollte er schlafen? Ohne Geld und Freunde? In der Urtegata? Nein, Oleg wusste, dass er dort gesehen werden und sich das schnell herumsprechen würde.
Es gab nur einen Ort, an dem Oleg sein konnte.
Harry sah auf die Uhr. Jetzt kam es darauf an, dorthin zu kommen, bevor der Vogel wieder ausgeflogen war.
Das Valle Hovin Stadion war ebenso menschenleer wie beim letzten Mal. Das Erste, was Harry auffiel, als er um die Ecke der Umkleide kam, war, dass eines der Fenster im Erdgeschoss kaputt war. Er schaute hinein. Die Glasscherben lagen innen. Dann ging er rasch zur Außentür, schloss sie mit dem Schlüssel auf, den er noch immer hatte, und lief weiter zur Garderobe.
Es fühlte sich an, als würde er von einem Güterzug getroffen.
Harry rang nach Luft, als er auf dem Boden lag und mit etwas über sich kämpfte. Etwas Nassem, Stinkendem, Verzweifeltem. Harry wand sich herum und versuchte sich aus der Umklammerung zu drehen. Er widerstand dem Reflex zuzuschlagen, bekam dann aber einen Arm zu fassen, eine Hand und presste sie an den Unterarm. Er schob sich auf die Knie und nutzte den Griff, um den anderen zu Boden zu drücken.
»Au! Verdammt! Lass mich los!«
»Ich bin es, Oleg! Harry.«
Er ließ los, half Oleg auf und geleitete ihn zur Garderobenbank.
Der Junge sah schrecklich aus. Blass und dünn. Mit
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