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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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wollte, dass er ihn jetzt ansah. Achtzehnjährige haben nicht gerne Zuschauer, wenn sie weinen. Er durfte nicht den Arm um ihn legen oder irgendetwas sagen, musste einfach nur da sein. Durfte nicht weggehen. Bloß an das gemeinsame Rennen denken, das jetzt vor ihnen lag.
    Als sie das Auto kommen hörten, stiegen sie von der Tribüne nach unten auf den Parkplatz. Harry sah, dass Hans Christian Rakel vorsichtig die Hand auf den Arm legte, als sie aus dem Auto stürmen wollte.
    Oleg drehte sich zu Harry um, blies die Backen auf, breitete die Arme aus, hakte seinen Daumen in dem von Harry ein und drückte seine Schulter an ihn. Aber Harry ließ ihn nicht so einfach gehen, sondern zog ihn an sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Los, hol dir den Sieg!«
    Irene Hanssen war unter der Adresse ihrer Eltern in einem Zweifamilienhaus in Grefsen mit einem kleinen, verwilderten Garten mit einem Apfelbaum ohne Äpfel und einer Schaukel gemeldet.
    Ein junger Mann – Harry schätzte ihn auf Anfang zwanzig – öffnete. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, und sein Polizeihirn brauchte einige Zehntelsekunden, um zwei Treffer in der Datenbank zu finden.
    »Ich heiße Harry Hole. Und Sie sind vermutlich Stein Hanssen?«
    »Ja?«
    Sein Gesicht zeigte die Mischung aus Unschuld und Wachsamkeit, die typisch für junge Männer ist, die schon einiges erlebt hatten – Gutes und Schlechtes –, die in ihrer Begegnung mit der Welt aber noch schwankten zwischen zu großer Offenheit und zu großer Vorsicht.
    »Ich habe Sie von einem Foto wiedererkannt. Ich bin ein Freund von Oleg Fauke.«
    Harry suchte in Stein Hanssens grauen Augen nach einer Reaktion, konnte aber keine ausmachen.
    »Sie haben vielleicht gehört, dass er aus der Haft entlassen worden ist? Jemand anderes hat den Mord an Ihrem Stiefbruder gestanden.«
    Stein Hanssen schüttelte den Kopf. Seine Mimik war noch immer minimal.
    »Ich bin ehemaliger Polizist. Ich versuche, Ihre Schwester zu finden, Irene.«
    »Warum?«
    »Um sicher zu sein, dass es ihr gutgeht. Ich habe Oleg versprochen, mich darum zu kümmern.«
    »Gut. Damit er sie weiterhin mit Drogen füttern kann?«
    Harry trat von einem Bein auf das andere. »Oleg ist jetzt clean. Das ist nicht ganz einfach, wie Sie vielleicht wissen. Aber er ist clean, weil er sich vorgenommen hat, Irene aus eigener Kraft zu finden. Er liebt sie, Stein. Ich will aber versuchen, Irene für uns alle zu finden, nicht nur für ihn. Und ich habe den Ruf, ziemlich gut zu sein, was das angeht.«
    Stein Hanssen sah Harry an. Zögerte etwas. Dann öffnete er die Tür.
    Harry folgte ihm in ein sauberes, nett möbliertes Wohnzimmer, das komplett unbewohnt wirkte.
    »Ihre Eltern …«
    »Die wohnen nicht mehr hier. Und ich bin nur hier, wenn ich nicht in Trondheim bin.«
    Er sprach das »r« tief im Hals. Früher war das mal typisch gewesen für Leute, die sich ein Kindermädchen aus dem Sørland leisten konnten. Auf jeden Fall erinnerte man sich an eine solche Stimme, dachte Harry, ohne zu wissen, warum er das dachte.
    Auf einem Klavier, das irgendwie aussah, als wäre es nie benutzt worden, stand eine Fotografie. Sie musste sechs oder sieben Jahre alt sein. Irene und Gusto waren deutlich zu erkennen, sie wirkten wie zwei Miniaturausgaben ihrer selbst und trugen Kleider und Frisuren, die ihnen später sicher mehr als peinlich gewesen waren. Stein stand mit ernster Miene hinter ihnen. Die Mutter hatte die Arme verschränkt und lächelte herablassend, fast spitz. Auch auf dem Gesicht des Vaters prangte ein Lächeln, und Harry entnahm seinem Gesichtsausdruck, dass vermutlich er die Idee zu diesem Familienfoto gehabt hatte. Auf jeden Fall war er der Einzige, der Enthusiasmus zeigte.
    »Das ist also die Familie.«
    »Das war die Familie. Meine Eltern sind geschieden. Vater ist nach Dänemark gezogen. Eigentlich ist er abgehauen. Mutter ist in der Klinik. Den Rest … na ja, den Rest kennen Sie dann ja anscheinend.«
    Harry nickte. Einer tot, noch jemand verschwunden, ziemlich viel Verlust für eine Familie.
    Harry setzte sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, in einen der tiefen Sessel. »Was können Sie mir sagen, um mir meine Suche nach Irene zu erleichtern?«
    »Keine Ahnung.«
    Harry lächelte. »Versuchen Sie es trotzdem.«
    »Irene ist zu mir nach Trondheim gezogen, nachdem sie hier etwas erlebt hat, über das sie nicht reden wollte. Ich bin mir aber sicher, dass Gusto sie dazu verleitet hat. Sie hat Gusto vergöttert, hat alles nur Erdenkliche für ihn

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