Die Larve
getan und sich dabei eingebildet, ihm etwas zu bedeuten, nur weil er ihr manchmal die Wange getätschelt hat. Nach ein paar Monaten kam dann ein Anruf, und sie musste plötzlich zurück nach Oslo. Warum, hat sie nicht gesagt. Das ist jetzt mehr als vier Monate her, seitdem habe ich nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Als ich sie über zwei Wochen nicht erreichen konnte, bin ich zur Polizei gegangen und habe sie als vermisst gemeldet. Sie haben die Anzeige aufgenommen und ein paar Nachforschungen angestellt, weiter ist aber nichts passiert. Es kümmert sich doch niemand um einen obdachlosen Junkie.«
»Eine Theorie?«, fragte Harry.
»Nein. Aber sie ist nicht freiwillig weg. Sie ist nicht der Typ dafür, einfach abzuhauen … wie so manche andere.«
Harry verstand, wen er meinte, fühlte sich aber trotzdem wie von einem Streifschuss an der Wade getroffen.
Stein Hanssen kratzte sich an einer trockenen Wunde auf seinem Unterarm. »Was seht ihr nur in ihr? Eure eigene Tochter? Glaubt ihr, ihr könntet es mit euren Töchtern treiben?«
Harry sah ihn überrascht an. »Ihr? Wie meinen Sie das?«
»Ihr alten Säcke geifert ihr doch richtig nach. Nur weil sie aussieht wie eine vierzehnjährige Lolita.«
Harry dachte an das Bild, das im Spind gehangen hatte. Stein Hanssen hatte recht. Und dann wurde Harry klar, dass er sich möglicherweise geirrt hatte, Irene konnte etwas widerfahren sein, das ganz und gar nichts mit diesem Fall zu tun hatte.
»Sie studieren in Trondheim? NTNU ?«
»Ja.«
»Welche Fachrichtung?«
»Informatik.«
»Hm. Oleg wollte auch studieren. Kennen Sie ihn?«
Stein schüttelte den Kopf.
»Nie mit ihm geredet?«
»Wir haben uns ein paarmal gesehen, aber das waren wirklich sehr kurze Begegnungen, wenn Sie verstehen.«
Harry blickte auf Steins Unterarm. Das war wie eine Berufskrankheit. Aber abgesehen von dem Schorf, zeigte der Arm keine Wunden. Natürlich nicht. Stein Hanssen war einer, der überlebte, einer von denen, die das Leben meisterten. Harry stand auf.
»Wie auch immer. Es tut mir leid, was mit Ihrem Bruder passiert ist.«
»Stiefbruder.«
»Hm. Könnte ich Ihre Nummer bekommen? Falls etwas auftauchen sollte.«
»Was sollte das wohl sein?«
Sie sahen sich an. Die Antwort blieb unausgesprochen zwischen ihnen hängen, es war nicht nötig, sie weiter auszuschmücken. Der Schorfrand war aufgerissen, und ein Tropfen Blut rann in Richtung Hand.
»Ich weiß etwas, das Ihnen vielleicht helfen könnte«, sagte Stein Hanssen, als Harry wieder draußen auf der Treppe stand. »Vergessen Sie all die Orte, an denen Sie sie vielleicht suchen würden: die Urtegata, die Treffpunkte, die Parks. Die Hospize, die Spritzenräume und die Hurenviertel. Die habe ich alle abgesucht. Da ist sie nicht.«
Harry nickte. Setzte seine Damensonnenbrille auf. »Lassen Sie das Telefon eingeschaltet, ja?«
Harry fuhr zum Lorry, um etwas zu essen, spürte aber schon auf der Treppe das Verlangen nach einem Bier und machte kehrt. Er ging stattdessen in einen neuen Laden gegenüber dem Literaturhaus, trat aber auch hier wieder den Rückzug an, nachdem er die Klientel gesehen hatte, und endete schließlich im Plah, wo er sich eine Thai-Tapas-Variante bestellte.
»Trinken? Singha?«
»Nein.«
»Tiger?«
»Haben Sie nur Bier?«
Die Bedienung verstand den Hinweis und kam mit Wasser zurück.
Harry aß Königskrabben und Hühnchen, ließ die Würstchen im Thai-Stil aber liegen. Dann rief er Rakel an und bat sie, die CD s durchzugehen, die er im Laufe der Zeit mit auf den Holmenkollen gebracht hatte und die dort verblieben waren. Einige hatte er selbst hören wollen, andere hatte er mitgenommen, um sie damit zu bekehren. Elvis Costello, Miles Davis, Led Zeppelin, Count Basie, Jayhawks, Muddy Waters. Gerettet hatte er damit aber niemanden.
Sie bewahrte die Harry-Musik, wie sie sie leicht ironisch nannte, in einem eigenen Teil des CD -Regals auf.
»Kannst du mir alle Songtitel vorlesen?«, bat er.
»Machst du Witze?«
»Ich erklär dir das später.«
»Okay, die erste ist Aztec Camera.«
»Hast du die …?«
»Ja, die sind alphabetisch geordnet.« Sie hörte sich beleidigt an.
»So was machen doch nur Jungs.«
»So was macht Harry. Es sind ja auch deine Platten. Kann ich jetzt lesen?«
Nach zwanzig Minuten waren sie bei W und Wilco, ohne dass Harry irgendwelche Assoziationen gekommen waren. Rakel seufzte schwer, fuhr aber fort:
»When You Wake Up Feeling Old.«
»Hm, nein.«
»Summer
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