Die Larve
Wagens unter der Decke hing. Er hatte einen Plan gehabt, einen Plan von einem anderen Leben. Jetzt blieben ihm zwanzig Minuten, um einen neuen zu entwickeln. Es war idiotisch. Er könnte jetzt im Flieger nach Bangkok sitzen. Könnte. Und genau darum ging es, er konnte es nämlich nicht, es war ihm nicht gegeben. Seine Behinderung, sein Klumpfuß, bestand darin, dass er es nie schaffte, fünfe mal gerade sein zu lassen, zu vergessen und sich abzusetzen, ohne nachzudenken. Er konnte trinken, wurde aber immer wieder nüchtern. Konnte nach Hongkong gehen, kam aber wieder zurück. Er war ohne Zweifel schwer gestört. Und die Wirkung der Pillen, die Martine ihm gegeben hatte, ließ auch langsam nach. Er brauchte mehr, die Schmerzen raubten ihm sonst noch den Verstand.
Harrys Blick fing die Börsennachrichten und Sportnews ein, als ihm der Gedanke kam, dass genau das Gegenteil zutraf und er gerade dabei war, abzuhauen und feige den Schwanz einzuziehen.
Nein. Dieses Mal war es anders. Schließlich hatte er sich ein neues Ticket ausstellen lassen und wollte am nächsten Abend mit demselben Flieger wie Rakel starten. Er hatte ihr sogar den Platz neben sich in der Business-Class reserviert und die Mehrkosten sofort gezahlt. Er fragte sich, ob er ihr sagen sollte, was er vorhatte, konnte sich aber eigentlich denken, wie sie reagieren würde. In ihren Augen hätte er sich nicht verändert, sondern wurde noch immer von demselben Wahn wie früher getrieben. Nichts würde anders werden, niemals. Erst wenn sie beide von der Beschleunigung in die Sitze gedrückt wurden, das Abheben der Maschine spürten, die Leichtigkeit, das Unabwendbare, würde sie erkennen, dass sie das Alte hinter sich gelassen hatten, unter sich, und ihre gemeinsame Reise erst begann.
Harry schloss die Augen und murmelte die Nummer des Fluges noch zweimal vor sich hin.
Harry verließ den Zug und ging über den Fußgängerüberweg zur Oper. Lief mit langen Schritten über den weißen Marmor in Richtung Haupteingang. Durch die Glasscheiben sah er die festlich gekleideten Menschen hinter dem Seil, das das aufgetakelte Foyer vom Hauptraum trennte, wie sie miteinander plauderten und Konversation trieben. In den Händen Finger-Food und Drinks.
Vor dem Eingang stand ein Sicherheitsbeamter im Anzug. Er hatte einen Knopf im Ohr und hielt die Hände vor dem Schritt verschränkt, als wartete er auf einen Freistoß. Breite Schultern, aber kein Muskelprotz. Sein trainierter Blick hatte Harry längst registriert und scannte nun die nähere Umgebung. Er musste ein Beamter des Polizeilichen Sicherheitsdienstes sein, woraus Harry wiederum schließen konnte, dass der Bürgermeister oder ein Regierungsmitglied anwesend war. Der Mann kam Harry zwei Schritte entgegen.
»Tut mir leid, geschlossene Gesellschaft, Premierenfest …«, begann er, hielt aber inne, als Harry ihm seinen Polizeiausweis entgegenstreckte.
»Mein Besuch hat nichts mit Ihrem Bürgermeister zu tun, Kollege«, sagte Harry. »Ich muss dienstlich ein paar Worte mit jemand anderem wechseln.«
Der Mann nickte, sprach etwas in das Mikrophon unter seinem Kragen und ließ Harry passieren.
Das Foyer war ein Rieseniglu, bevölkert von einer Vielzahl von Gesichtern, die Harry trotz seines langen Exils wiedererkannte: die Lieblingsgesichter der Printmedien, die Talking-Heads der Fernsehsender, die Unterhaltungsartisten aus Sport und Politik und die eher grauen Eminenzen der Kultur. Harry verstand sofort, was Isabelle Skøyen mit dem Satz gemeint hatte, es sei so schwierig, ein Date zu finden, das groß genug für ihre Highheels war. Sie ragte wie ein Turm aus der Versammlung heraus und war leicht zu finden.
Harry stieg über das Seil und bahnte sich, sich entschuldigend, einen Weg, während der Weißwein um ihn herum in den Gläsern schwappte.
Isabelle sprach mit einem Mann, der einen halben Kopf kleiner als sie war, ihr begeisterter, sich einschmeichelnder Gesichtsausdruck verriet Harry aber, dass dieser Mann sie an Macht und Status ein paar Köpfe überragte. Als er nur noch etwa drei Meter von ihnen entfernt war, versperrte ihm plötzlich ein Mann den Weg.
»Ich bin der Polizist, der gerade mit Ihrem Kollegen draußen gesprochen hat«, sagte Harry. »Ich muss mit ihr reden.«
»Bitte«, sagte der Wachmann, und Harry glaubte, einen gewissen Unterton herauszuhören.
Harry trat die letzten Schritte vor.
»Hallo, Isabelle«, sagte er und sah die Überraschung auf ihrem Gesicht. »Ich hoffe, ich bringe Ihre
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