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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Ohne zu wissen, warum, rief Harry durch das kaputte Fenster. Nur ein kurzer Schrei. Die Frau reagierte nicht.
    Als Harry wieder draußen auf der Straße stand, stellte er fest, dass er es nicht schaffen würde. Sein Hals schien lichterloh in Flammen zu stehen, und die Hitze pumpte den Schweiß nur so nach draußen, so dass seine Kleider schon ganz nass waren. Er bekam Schüttelfrost.
    Die Bar gegenüber spielte an diesem Abend einen anderen Song. Durch die offene Tür drang Van Morrisons And It Stoned Me .
    Schmerzstillend.
    Harry trat aus der Toreinfahrt auf die Straße, hörte ein durchdringendes, verzweifeltes Klingeln und sah gleich darauf eine blauweiße Wand an sich vorbeirauschen. Vier Sekunden lang stand er wie angewurzelt in der Mitte der Straße, dann war die Straßenbahn vorbei, so dass die offene Tür der Bar wieder vor ihm lag.
    Der Barkeeper zuckte zusammen, als er von seiner Zeitung hochsah und Harry erblickte.
    »Jim Beam«, sagte Harry.
    Der Barkeeper blinzelte zweimal. Ohne sich zu rühren. Dann glitt ihm die Zeitung aus den Händen und segelte zu Boden.
    Harry fischte ein paar Euroscheine aus seiner Tasche und legte sie auf den Tresen. »Geben Sie mir die ganze Flasche.«
    Der Kiefer des Barkeepers war nach unten geklappt, und das tätowierte EAT hatte mit einem Mal eine Fettwulst über dem T.
    »Nun«, sagte Harry. »Ich geh dann auch wieder.«
    Der Barkeeper warf einen raschen Blick auf die Scheine. Dann richtete er seine Augen wieder auf Harry und nahm die Jim-Beam-Flasche aus dem Regal.
    Harry seufzte, sie war nicht einmal halbvoll. Er ließ sie in die Manteltasche gleiten, sah sich um, suchte nach ein paar denkwürdigen Worten zum Abschied, gab das Vorhaben dann aber auf und verließ die Bar mit einem kurzen Nicken.
    An der Ecke Prinsens gate, Dronningens gate blieb er stehen und rief die Auskunft an. Dann öffnete er die Flasche. Sein Magen zog sich zusammen, als er den Bourbon roch. Aber er wusste, dass er ohne Betäubung nicht schaffen würde, was er sich vorgenommen hatte. Das letzte Mal lag drei Jahre zurück. Vielleicht war es ja besser geworden. Er legte die Flasche an die Lippen. Neigte den Kopf nach hinten und hob die Flasche an. Drei Jahre Abstinenz. Das Gift traf das System wie eine Napalmbombe. Es war nicht besser geworden, es war schlimmer als jemals zuvor.
    Harry beugte sich vor, streckte einen Arm aus und stützte sich breitbeinig an der Hauswand ab, damit nichts auf seine Hose oder die Schuhe kam.
    Hinter sich hörte er hochhackige Schuhe auf dem Asphalt. »Hey, Mister. Me beautiful?«
    »Sure« , schaffte Harry noch zu erwidern, dann war sein Hals voll. Der gelbliche Strahl klatschte mit beeindruckender Kraft und Streuung auf den Bürgersteig, und er hörte, wie sich das Klackern der Absätze in Kastagnettengeschwindigkeit wieder entfernte. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und versuchte es erneut. Den Kopf nach hinten. Whiskey und Galle liefen nach unten. Und kamen wieder hoch.
    Der dritte Versuch gelang. Einigermaßen.
    Der vierte saß wie ein Schuss.
    Der fünfte war der Himmel.
    Dann hielt er ein Taxi an und nannte dem Fahrer die Adresse.
    Truls Berntsen eilte durch die Dunkelheit über den Parkplatz vor dem Wohnblock. Hinter den Fenstern all der sicheren, guten Wohnstuben brannte Licht. Das war die Zeit, in der die Nachrichten zu Ende gingen und endlich die netteren Sendungen begannen, so dass die Fernseher eingeschaltet und Snacks und Kaffee und vielleicht auch das eine oder andere Bier aufgetischt wurden. Truls hatte im Präsidium angerufen und sich krankgemeldet. Niemand hatte nachgefragt, was ihm fehlte, sie hatten sich aber erkundigt, ob er die drei Tage krank sein würde, die er ohne Attest von der Arbeit fernbleiben durfte. Truls hatte geantwortet, dass er doch jetzt noch nicht wissen könne, wie lange er krank sein würde. Die Schwänzerkultur dieses Landes war ebenso peinlich wie seine Politiker mit ihren scheinheiligen Äußerungen über die Arbeitsmoral der Menschen, die doch so gerne arbeiten gingen, wenn sie denn nur konnten. In Wahrheit wählten die Norweger die Arbeiterpartei, weil diese das Schwänzen zum Menschenrecht erhoben hatte. Wer stimmt denn nicht für eine Partei, die einem drei freie Tage schenkt. Ein Freilos, um zu Hause zu bleiben, sich einen runterzuholen, eine Skitour zu machen oder sich von einem Kater zu erholen? Die Arbeiterpartei wusste natürlich, was für ein Bonbon sie da offerierte, versuchte aber trotzdem

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