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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Warum hast du das nicht längst getan? Traust du dich nicht? Hast du Angst, in der Hölle zu schmoren?«
    Harry drückte die Zigarette auf der Tischplatte aus. »Weil ich erst noch ein paar Dinge wissen will. Warum hast du Gusto getötet? Hattest du Angst, er könnte dich verraten?«
    Der Alte strich sich seine weißen Haare hinter die Dumbo-Ohren. »In Gustos Adern floss das Blut von schlechten Menschen, genau wie in den meinen. Er war schon von Natur aus ein Verräter. Und er hätte mich früher verraten, wenn er dadurch etwas gewonnen hätte. Aber dann kam die Verzweiflung. Die Sucht. Die Jagd nach Violin. Das ist die reine Chemie. Plötzlich ist das Fleisch stärker als der Geist. Wir alle werden zu Verrätern, wenn die Sucht ihren Tribut fordert.«
    »Ja«, sagte Harry. »Dann werden wir alle zu Verrätern.«
    »Ich …« Der Alte räusperte sich. »Ich musste ihn gehen lassen.«
    »Gehen lassen?«
    »Ja, gehen lassen, untergehen, verschwinden. Ich konnte ihm das Geschäft nicht übergeben, das musste ich einfach akzeptieren. Dabei war er klug genug, das hatte er von seinem Vater. Ihm fehlte aber das Rückgrat, ein Defizit, das er von seiner Mutter geerbt hat. Ich habe versucht, ihm beizubringen, was Verantwortung ist, aber er hat den Test nicht bestanden.« Der Alte strich sich fester und fester über die Haare, als klebte etwas daran, das er abzuwischen versuchte. »Hat den Test nicht bestanden. Schlechtes Blut. Deshalb habe ich beschlossen, das Geschäft doch einem anderen zu übergeben. Zuerst dachte ich an Andrej und Peter. Du hast sie ja getroffen, nicht wahr? Sibirische Kosaken aus Omsk. Kosake bedeutet ›freier Mann‹, wusstest du das? Andrej und Peter waren mein Regiment, meine stanitsa . Sie waren ihrem ataman treu ergeben, bis in den Tod. Aber Andrej und Peter waren keine Geschäftsleute, verstehst du?« Harry registrierte, dass der Alte vor sich hin gestikulierte, als wäre er ganz in seine eigenen Grübeleien versunken. »Ihnen konnte ich das Geschäft nicht überlassen. Also habe ich mich für Sergej entschieden. Er war jung, hatte die Zukunft noch vor sich, war formbar …«
    »Du hast mal zu mir gesagt, dass du vielleicht selbst einmal einen Sohn hattest.«
    »Sergej hatte vielleicht nicht Gustos Sinn für Zahlen, aber er war diszipliniert. Ambitioniert. Bereit, das zu tun, was man tun musste, um ataman zu werden. Deshalb habe ich schließlich ihm das Messer gegeben. Nur der letzte Test stand noch aus. Wollte ein Kosake in alten Zeiten ataman w erden, musste er allein in die Taiga gehen und mit einem lebenden Wolf zurückkommen, geknebelt und gefesselt. Sergej war dazu bereit, aber ich musste sichergehen, dass er auch wirklich to sjto nuzhjo tat.«
    »Was bitte?«
    »Das Notwendige.«
    »War Gusto dieser Sohn?«
    Der Alte strich sich die Haare so fest nach hinten, dass seine Augen zu zwei schmalen Schlitzen wurden.
    »Gusto war sechs Monate alt, als ich ins Gefängnis kam. Seine Mutter suchte Trost, wo sie Trost finden konnte. Jedenfalls eine kurze Zeit, sie war nicht in der Lage, sich um ihn zu kümmern.«
    »Heroin?«
    »Das Jugendamt nahm ihr Gusto weg und schickte ihn zu Pflegeeltern. Alle waren sich einig darüber, dass ich, der Häftling, überhaupt nicht existierte. Im Winter einundneunzig hat sie sich eine Überdosis gesetzt. Sie hätte es früher tun sollen.«
    »Du hast gesagt, du wärest aus demselben Grund wie ich nach Oslo zurückgekommen. Wegen deinem Sohn?«
    »Mir war zu Ohren gekommen, dass er bei seinen Pflegeeltern ausgezogen und auf die schiefe Bahn geraten war. Ich hatte ohnehin vor, Schweden zu verlassen, und die Konkurrenz in Oslo war nicht außerordentlich groß. Ich fand heraus, wo Gusto sich herumtrieb. Studierte ihn erst nur aus der Distanz. Er war so schön. So verdammt schön. Wie seine Mutter, natürlich. Ich konnte einfach nur dasitzen und ihn anschauen. Ihn anschauen und denken, das ist mein Sohn, mein …« Die Stimme des Alten wurde brüchig.
    Harry blickte nach unten auf die Nylonschnur, die er anstelle der Gardinenstange bekommen hatte, und hielt sie mit der Fußsohle fest.
    »Und dann hast du ihn in dein Geschäft geholt und getestet, ob er ein würdiger Nachfolger ist.«
    Der Alte nickte. Flüsterte: »Aber ich habe nie etwas gesagt. Als er starb, wusste er nicht, dass ich sein Vater bin.«
    »Warum war das plötzlich so eilig?«
    »Eilig?«
    »Warum brauchtest du jemanden, der deine Geschäfte übernimmt? Erst Gusto und dann Sergej.«
    Der Alte lächelte

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