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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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müde. Beugte sich auf dem Stuhl vor, bis das Licht der Leselampe über dem Bett auf sein Gesicht fiel.
    »Ich bin krank.«
    »Hm, ich dachte mir schon so etwas. Krebs?«
    »Die Ärzte haben mir noch ein Jahr gegeben. Das ist jetzt sechs Monate her. Das heilige Messer, das Sergej benutzt hat, lag die ganze Zeit unter meiner Matratze. Spürst du die Schmerzen in der Stichwunde? Das ist mein Leiden, Harry, das Messer hat es auf dich übertragen.«
    Harry nickte langsam. Es stimmte. Und es stimmte auch wieder nicht.
    »Wenn du nur noch ein halbes Jahr zu leben hast, warum hattest du dann so eine Angst davor, dass bekannt werden könnte, dass du deinen eigenen Sohn getötet hast? Sein langes Leben gegen dein kurzes?«
    Der Alte hustete gedämpft. »Urkas und Kosaken sind die einfachen Leute des Regiments, Harry. Wir schwören auf einen Kodex, dem wir dann auch folgen. Nicht blind, sondern sehend. Wir sind dazu erzogen worden, unsere Gefühle im Zaum zu halten, was uns zum Herrn über unser eigenes Leben macht. Abraham erklärte sich bereit, seinen eigenen Sohn zu opfern, weil …«
    »… Gott ihm das befohlen hat. Ich habe keine Ahnung, von was für einer Art von Kodex du redest, aber sagt der wirklich, dass es okay ist, einen Achtzehnjährigen wie Oleg für deine Verbrechen büßen zu lassen?«
    »Harry, Harry, hast du denn wirklich nichts verstanden? Ich habe Gusto nicht getötet.«
    Harry starrte den Alten an. »Hast du nicht gerade gesagt, dass dein Kodex dir vorgeschrieben hat, deinen eigenen Sohn zu töten, sollte das notwendig sein?«
    »Ja, aber ich habe auch gesagt, dass ich von schlechten Menschen abstamme. Ich liebe meinen Sohn. Ich hätte Gusto niemals töten können. Im Gegenteil. Ich scheiße auf Abraham und seinen Gott.« Das Lachen des Alten ging in ein Husten über. Er legte die Hände auf die Brust, beugte sich nach vorne über die Knie und rang hustend nach Atem.
    Harry blinzelte. »Und wer hat ihn dann getötet?«
    Der Alte richtete sich wieder auf und hielt einen Revolver in der rechten Hand. Ein großes, hässliches Teil, das noch älter aussah als sein Besitzer.
    »Du hättest wirklich wissen müssen, dass du nicht unbewaffnet zu mir kommen darfst, Harry.«
    Harry antwortete nicht. Die MP5 lag auf dem Boden eines gefluteten Tunnels und das Gewehr stand noch bei Truls Berntsen.
    »Wer hat Gusto getötet?«, wiederholte Harry.
    »Das kann jeder getan haben.«
    Harry hatte das Gefühl, es knirschen zu hören, als der Finger des Alten sich um den Abzug legte.
    »Denn es ist nicht sonderlich schwer zu töten, nicht wahr, Harry?«
    »Stimmt«, sagte Harry und hob den Fuß. Es schwirrte unter der Schuhsohle, als der dünne Nylonfaden in Richtung Gardinenstange wegschoss.
    Harry sah das Fragezeichen in den Augen des Alten, verfolgte, wie sein Gehirn die halbverdauten Informationsstückchen blitzschnell zu verarbeiten suchte.
    Die Deckenlampe funktionierte nicht.
    Der Stuhl stand genau in der Mitte des Raumes.
    Harry hatte ihn nicht durchsucht.
    Harry hatte sich überhaupt nicht bewegt, war nicht von seinem Platz gewichen.
    Und vielleicht erkannte er jetzt trotz des Halbdunkels, dass die Nylonschnur von Harrys Schuhsohle zur Gardinenstange und von dort zur Befestigung der Deckenlampe verlief. Wo eben keine Lampe mehr hing, sondern das Einzige, was Harry außer dem Pastorenkragen aus dem Blindernveien mitgenommen hatte. Nur dieser eine Gedanke hatte ihn beherrscht, als er tropfnass und nach Atem ringend auf Rudolf Asajevs Himmelbett gelegen hatte. Schwarze Punkte waren durch sein Blickfeld geflimmert, und er hatte sich krampfhaft wach zu halten versucht, um nicht das Bewusstsein zu verlieren, sondern auf dieser Seite des Dunkels zu bleiben. Dann war er aufgestanden, war ins Schlafzimmer gegangen und hatte den zjuk an sich genommen, der neben der Bibel lag.
    Rudolf Asajev warf sich im letzten Moment nach links, so dass die Stahlnägel des Ziegelsteins nicht seinen Kopf trafen, sondern stattdessen die Haut zwischen Schlüsselbein und Trapezmuskel durchstießen und weiter vordrangen bis zu den Nervengeflechten Plexus cervicalis und Plexus brachialis , wo sie die Oberarmmuskeln lähmten, was wiederum dazu führte, dass der Schussarm bereits ganze sieben Zentimeter zu Boden gesackt war, als Asajev abdrückte. Das Pulver fauchte und brannte in der Tausendstelsekunde, die die Kugel brauchte, um den Lauf des alten Nagant-Trommelrevolvers zu verlassen. Drei Tausendstelsekunden später bohrte sich die Kugel in den

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