Die Larve
Sorgen. Martin war auch schon bei dir zu Hause, aber da warst du nicht. Stig?«
Harry beendete das Gespräch und steckte das Handy in die Tasche. Er brauchte ohnehin ein neues. Martines war bei dem Tauchgang kaputtgegangen.
Er nahm einen Stuhl aus der Küche, setzte sich auf die Veranda und hielt sein Gesicht in die Morgensonne. Dann nahm er das Päckchen Zigaretten hervor, steckte sich eine der affektierten, schwarzen Zigaretten in den Mund und zündete sie sich an. Mehr konnte er nicht tun, dachte er, dann wählte er die Nummer, die er so gut kannte.
»Rakel.«
»Hallo, ich bin’s.«
»Harry? Die Nummer kenne ich ja gar nicht.«
»Ich hab ein neues Telefon.«
»Oh, ich freue mich ja so, deine Stimme zu hören. Ist alles glattgegangen?«
»Ja«, sagte Harry und musste lächeln über die Freude in ihrer Stimme. »Es ist alles glattgegangen.«
»Ist es warm?«
»Sehr warm. Die Sonne scheint, und ich werde jetzt gleich frühstücken.«
»Frühstücken? Ist es bei dir denn nicht vier oder so?«
»Jetlag«, sagte Harry. »Ich konnte im Flieger nicht schlafen. Ich habe ein schönes Hotel für uns gefunden. An der Sukhumvit Road.«
»Du ahnst ja nicht, wie ich mich darauf freue, dich wiederzusehen, Harry.«
»Ich …«
»Nein, warte, Harry. Ich meine das wirklich so. Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht. Und weißt du, das ist wirklich richtig. Ich meine, wir müssen das mit uns herausfinden, du und ich. O Gott, wenn ich nein gesagt hätte.«
»Rakel …«
»Ich liebe dich, Harry. Liebe dich, hörst du? Hörst du, wie platt, seltsam und auch phantastisch dieses Wort ist? Das ist wie so ein signalrotes Kleid, das man wirklich tragen wollen muss . Ich liebe dich. Oder ist das jetzt ein bisschen dick aufgetragen?«
Sie lachte. Harry schloss die Augen und spürte die angenehmste aller Sonnen seine Haut liebkosen und das Lachen aller Lachen sein Trommelfell streicheln.
»Harry? Bist du da?«
»Ja, doch.«
»Es ist so seltsam, du hörst dich so nah an.«
»Hm. Bald werde ich dir noch näher sein, Liebling.«
»Sag das noch mal.«
»Was?«
»Liebling.«
»Liebling.«
»Ahh.«
Harry spürte, dass er auf etwas Hartem saß, das in seiner Gesäßtasche steckte. Er nahm es heraus. Die Sonne ließ die angelaufene äußere Schicht des Ringes wie Gold glänzen.
»Du«, sagte er und fuhr mit der Fingerkuppe über die schwarze Kerbe. »Du warst doch nie verheiratet, oder?«
Sie antwortete nicht.
»Hallo?«, fragte Harry.
»Hallo.«
»Was meinst du, wie wär’s?«
»Harry, red keinen Unsinn!«
»Ich rede keinen Unsinn. Ich weiß natürlich, dass es dir nie in den Sinn kommen würde, einen Geldeintreiber aus Hongkong zu heiraten.«
»Nein, aber … Wen sollte ich denn sonst heiraten?«
»Keine Ahnung. Wie wär’s mit einem Zivilisten und Expolizisten, der an der Polizeihochschule Vorlesungen hält?«
»Hört sich nicht nach jemandem an, den ich kenne.«
»Vielleicht ja jemand, den du kennenlernen könntest. Der dich überrascht. Es sind schon seltsamere Sachen passiert.«
»Du hast doch immer gesagt, die Menschen verändern sich nicht.«
»Und wenn ich nun behaupte, dass die Menschen sich sehr wohl verändern können, bedeutet das doch wohl, dass man sich verändern kann.«
»Schlaumeier.«
»Lass uns mal, rein hypothetisch, annehmen, dass ich recht habe und die Menschen sich wirklich verändern können. Das würde dann ja auch bedeuten, dass es möglich ist, Sachen hinter sich zu lassen.«
»Dass man Gespenster kaputtstarren kann?«
»Also, was sagst du?«
»Wozu?«
»Zu meiner hypothetischen Frage zu heiraten.«
»Soll das etwa ein Antrag sein? Hypothetisch? Am Telefon ?«
»Jetzt gehst du vielleicht ein bisschen zu weit. Ich sitze doch bloß in der Sonne und plaudere ganz nett mit einer ganz netten Frau.«
»Und ich lege jetzt auf.«
Sie beendete das Gespräch, und Harry lehnte sich breit grinsend auf dem Küchenstuhl nach hinten. Sonnenwarm und schmerzfrei. In vierzehn Stunden würde er sie sehen. Er stellte sich Rakels Gesichtsausdruck vor, wenn sie in Gardermoen zum Gate ging und ihn entdeckte, dass er dort auf sie wartete. Ihren Blick, wenn Oslo unter ihnen verschwand. Ihren Kopf an seiner Schulter, wenn sie einschlief.
Er blieb mit geschlossenen Augen sitzen, bis die Temperatur plötzlich sank. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben, sah aber nicht sonderlich gefährlich aus.
Er schloss die Augen wieder.
Folge dem Hass , hatte der Alte
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