Die Larve
gesagt.
Harry hatte erst geglaubt, er sollte seinem eigenen Hass folgen und den Alten umbringen. Aber was, wenn Asajev das ganz anders gemeint hatte? Schließlich hatte er diese Worte gesagt, als Harry ihn nach Gustos Mörder gefragt hatte. War das eine Antwort gewesen? Sollte Harry der Spur des Hasses folgen? Würde sie ihn zum Täter führen? Prinzipiell gab es dann gleich mehrere Kandidaten. Wer aber hatte den eindeutigsten Grund, Gusto zu töten? Irene konnte er vergessen, die war zur Tatzeit ja bereits eine Gefangene gewesen.
Als die Sonne wieder zurückkam, dachte Harry, dass er diesen Worten zu viel Gewicht beimaß, seine Arbeit war erledigt, und er musste nur noch entspannen. Vielleicht ein paar Pillen nehmen und dann Hans Christian anrufen und ihm mitteilen, dass Oleg endlich außer Gefahr war.
Dann kam Harry etwas anderes in den Sinn. Truls Berntsen, dieser simple Beamte von Orgkrim, konnte unmöglich Zugang zum Zeugenschutzprogramm haben. Da mussten andere involviert sein. Leute, die weiter oben saßen.
Hör auf zu denken, dachte er. Hör jetzt verdammt noch mal auf! Das ist nicht deine Sache! Denk an den Flieger! Nightflight . Die Sterne über Russland.
Schließlich ging er zurück in den Keller. Er fragte sich einen Moment lang, ob er Nybakk abschneiden sollte, entschied sich dann aber dagegen und nahm das Brecheisen mit, nach dem er gesucht hatte.
Die Haustür in der Hausmanns gate 92 stand noch immer offen, aber die Wohnungstür war erneut versiegelt und mit einem Schloss versehen worden. Vielleicht wegen des neuen Geständnisses, dachte Harry, bevor er das Brecheisen in den Spalt zwischen Tür und Rahmen setzte.
Drinnen wirkte alles unberührt. Das Licht der Vormittagssonne fiel in Streifen in den Raum und zeichnete Klaviertasten auf den Zimmerboden.
Er stellte seinen kleinen Lederkoffer an der einen Wand ab und setzte sich auf eine der Matratzen. Versicherte sich noch einmal, dass das Flugticket in seiner Innentasche steckte, und warf einen Blick auf seine Uhr. Noch dreizehn Stunden bis zum Abflug.
Er sah sich um. Schloss die Augen. Versuchte, sich alles vorzustellen.
Eine Person mit einer Sturmhaube.
Jemand, der kein Wort sagte, weil er wusste, dass seine Stimme ihn verraten würde.
Eine Person, die Gusto hier aufgesucht hatte. Die ihm nichts nehmen wollte, nur sein Leben. Jemand, der voll des Hasses war.
Das Projektil war ein Malakov, 9 × 18 mm, gewesen, der Täter hatte also aller Voraussicht nach auch mit einer Malakov geschossen. Oder einer Fort-12. Eventuell auch mit einer Odessa, wenn es die inzwischen wirklich in Oslo geben sollte. Er hatte hier gestanden, hatte abgedrückt und war wieder gegangen.
Harry lauschte, hoffte, dass der Raum zu ihm sprach.
Die Sekunden vergingen und wurden zu Minuten.
Eine Kirchenglocke begann zu läuten. Hier war nichts mehr zu holen.
Harry stand auf und ging.
War an der Tür, als er durch das Läuten der Glocke ein anderes Geräusch vernahm. Er wartete, bis der nächste Glockenschlag verklungen war, und hörte das Geräusch wieder, wie ein vorsichtiges, leises Kratzen. Er schlich zwei Schritte zurück und blickte ins Wohnzimmer.
Die Ratte hockte von Harry abgewandt an der Fußleiste neben der Tür. Braun, mit glänzendem Schwanz und rosa leuchtenden Ohren. Über dem Schwanz hatte sie ein paar vereinzelte weiße Krümel im Fell.
Harry wusste nicht, warum er stehen blieb. Es war nicht wirklich überraschend, an diesem Ort auch auf Ratten zu stoßen.
Aber diese weißen Krümel.
Als wäre die Ratte durch Waschpulver gelaufen. Oder …
Harry sah sich um, und sein Blick fiel auf den großen Aschenbecher zwischen den Matratzen. Er wusste, dass er nur eine Chance haben würde, zog sich die Schuhe aus, schlich beim nächsten Glockenschlag ins Zimmer, nahm den Aschenbecher und blieb anderthalb Meter neben der Ratte, die ihn noch immer nicht bemerkt hatte, still stehen. Berechnete und zielte. Als die Glocke wieder schlug, ließ er sich, den Aschenbecher vor sich gestreckt, fallen. Die Ratte reagierte erst, als sie vom Keramik gefangen war. Harry hörte sie fauchen und spürte, wie sie sich drinnen gegen den Rand des Aschenbechers warf. Er zog den Aschenbecher über den Boden zum Fenster, wo sich Zeitungen stapelten, und platzierte diese oben auf dem Aschenbecher. Dann begann er, alle Schubladen und Schränke der Wohnung nach einem Faden oder einer Schnur abzusuchen, aber ohne Erfolg.
Schließlich hob er den Flickenteppich ein Stück vom Fußboden
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