Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
feindlich gesonnenen Territorium einen Verbündeten, jemanden, dem er vertrauen konnte und der ihn deckte, sollte er angegriffen werden. Womit Bellman Truls, ohne es klar zu sagen, daran erinnert hatte, dass er ja noch etwas gut hatte bei ihm. Schließlich hatte er ihm den Arsch gerettet. Zuletzt bei dem Fall des Jungen in U-Haft, den er etwas zu hart angegangen war und der plötzlich eine blöde Augenverletzung gehabt hatte. Natürlich hatte Mikael protestiert und betont, wie sehr er Polizeigewalt verabscheue und dass er so etwas in seiner Abteilung nicht dulde. Er hatte sogar mit der Polizeijuristin und möglichen internen Ermittlungen gedroht, doch da der junge Häftling seine Sehfähigkeit beinahe vollständig zurückerlangt hatte, war Mikael einen Deal mit dem Anwalt des Angeklagten eingegangen. Die Anklage wegen Drogenbesitzes wurde fallengelassen und alles unter den Teppich gekehrt, so dass nichts weiter geschehen war.
    Wie auch hier jetzt nichts geschah.
    Nicht enden wollende Tage und Füße auf den Tisch.
    Genau diese Stellung wollte Truls gerade einnehmen, als er – wie sicher zehnmal am Tag – zu der alten Linde im Botsparken blickte. Dem mittleren Baum an der Allee zum Gefängnis.
    Es war da.
    Das rote Plakat.
    Er spürte ein Kribbeln auf der Haut. Sein Pulsschlag wurde schneller, und die Lebensgeister erwachten.
    Er stand rasch auf, nahm seine Jacke und ließ den Kaffee stehen.
    Die Kirche von Gamlebyen lag zu Fuß nur acht Minuten vom Präsidium entfernt, wenn man schnell ging. Truls Berntsen ging über die Oslo gate zum Minneparken, dann nach links über die Dyvekes-Brücke und war schon im Herzen von Oslo, an dem Punkt, aus dem die Stadt einmal hervorgegangen war. Die Kirche selbst war so nüchtern gehalten, dass sie beinahe ärmlich wirkte. Ohne diese aufgesetzten Ornamente, wie sie sich an der neuromanischen Kirche in der Nähe des Präsidiums fanden. Dafür rankten sich umso buntere Geschichten um die alte Kirche von Gamlebyen, wenn denn wenigstens die Hälfte von dem wahr war, was seine Großmutter ihm als Kind in Manglerud erzählt hatte. Die Familie Berntsen war aus einem heruntergekommenen Stadthaus in die Trabantenstadt Manglerud gezogen, nachdem dieser Stadtteil in den fünfziger Jahren hochgezogen worden war. Und obwohl die Arbeiterfamilie Berntsen seit drei Generationen in Oslo ansässig war, fühlte sie sich inmitten der Bauern und Weitzugereisten, die hierhergekommen waren, um sich ein neues Leben aufzubauen, wie Immigranten. Wenn Truls’ Vater sich in den siebziger und achtziger Jahren in ihrer Wohnung betrunken und alles und jeden verflucht hatte, war Truls entweder zu seinem besten – und einzigen – Freund Mikael gelaufen oder nach Gamlebyen zu seiner Großmutter gefahren. Sie hatte ihm erzählt, dass die alte Kirche auf den Grundmauern eines Klosters aus dem 13. Jahrhundert errichtet worden war, in dem die Mönche sich während der Pest eingeschlossen hatten, um zu beten, wenn auch der Volksmund meinte, sie hätten das bloß getan, um sich ihrer christlichen Pflicht zu entledigen und nicht all die ansteckenden Kranken pflegen zu müssen. Als der Kanzler nach Monaten ohne ein Lebenszeichen die Tür des Klosters aufbrechen ließ, tanzten die Ratten auf den verfaulenden Körpern der toten Mönche. Großmutters Lieblings-Gutenachtgeschichte handelte davon, dass auf demselben Grund später eine Irrenanstalt namens »Dollhuset« errichtet worden war. Einer der Verrückten soll sich beschwert haben, dass nachts Männer in Kutten durch die Korridore geisterten. Und darüber, dass ein anderer der Patienten einem Mann die Kapuze vom Kopf gezogen habe, doch da sei nur eine blasse, von Rattenbissen entstellte Fratze ohne Augen zum Vorschein gekommen. Truls’ Lieblingsgeschichte war aber die über Askild Øregod. Er hatte vor mehr als hundert Jahren gelebt, als Kristiania eine ordentliche Stadt wurde und oben auf dem alten Grund längst die jetzige Kirche stand. Es heißt, sein Geist spuke auf dem Friedhof, in den angrenzenden Straßen, am Hafen und im Viertel Kvadraturen. Weiter weg war er laut Großmutter nie gesehen worden, denn er hatte nur ein Bein und durfte sich nicht weit von seinem Grab entfernen, damit er rechtzeitig wieder zurück war, wenn es hell wurde. Askild Øregod hatte sein Bein als Dreijähriger unter dem Spritzenwagen der Feuerwehr verloren. Dass er trotzdem nach seinen großen Ohren benannt wurde, war ihrer Meinung nach auf den etwas seltsamen Humor dieses Stadtteils

Weitere Kostenlose Bücher