Die Larve
Tatort gefunden.
Er steckte die Hand in die Tasche und fischte die beiden Schlüssel heraus, die er von Olegs Schlüsselbund gelöst hatte, während Nilsen die Liste studiert hatte. Harry wusste nicht genau, welche seiner eigenen Schlüssel er dafür auf den Ring geschoben hatte, aber in Hongkong war es wirklich kein Problem, sich neue feilen zu lassen.
Der eine Schlüssel war ein Abus-Schlüssel, vermutlich für ein Vorhängeschloss. Harry hatte selbst einmal so ein Schloss gekauft. Der andere war ein Ving-Schlüssel. Er steckte ihn ins Schloss, bekam ihn zur Hälfte hinein, doch dann war Schluss. Alles Drücken und Drehen half nichts. Der Schlüssel passte nicht.
»Scheiße!«
Er holte sein Handy heraus. Ihre Nummer stand in der Kontaktliste unter »B«. Da er ohnehin nur acht Nummern gespeichert hatte, reichte ein Buchstabe.
»Lønn.«
Es gab zwei Sachen, die Harry an Beate Lønn besonders mochte. Zum einen war sie eine der beiden besten Kriminaltechniker, mit denen er jemals gearbeitet hatte, zum anderen verstand sie sich darauf, alle Informationen auf das wirklich Relevante zu beschränken und – wie Harry – keinen Fall durch unnötiges Gerede zu verzögern.
»Hallo, Beate. Ich stehe in der Hausmanns gate.«
»Am Tatort? Was hast du da ver…?«
»Ich komme nicht rein. Hast du den Schlüssel?«
»Ob ich den Schlüssel habe?«
»Du bist doch die Chefin von eurem Haufen, oder?«
»Natürlich habe ich den Schlüssel. Aber ich habe nicht vor, dir den zu geben.«
»Klar. Aber du hast hier doch bestimmt noch was zu überprüfen? Ich erinnere mich da an die Worte eines alten Gurus, der immer gesagt hat, dass ein Kriminaltechniker bei Mordfällen nicht gründlich genug sein kann.«
»Daran erinnerst du dich?«
»Das war das Erste, was sie all ihren Schülern gesagt hat. Vielleicht kann ich dann ja mit reinkommen und dir bei der Arbeit zusehen?«
»Harry …«
»Ich fasse auch nichts an.«
Schweigen. Harry wusste, dass er sie ausnützte. Sie war mehr als nur eine Kollegin, sie war eine Freundin, und vor allem: Sie war selbst Mutter.
Sie seufzte. »Gib mir zwanzig.«
Für sie war es überflüssig, »Minuten« zu sagen.
Für Harry war es überflüssig, »Danke« zu sagen, weshalb er einfach auflegte.
Kommissar Truls Berntsen ging langsam über den Flur des Dezernats Orgkrim. Er wusste aus Erfahrung, dass die Zeit schneller verging, wenn er langsamer lief. Und wenn es etwas gab, wovon er genug hatte, dann Zeit. In seinem Büro warteten ein durchgesessener Bürostuhl und ein kleiner Schreibtisch mit einem Stapel Berichte, der da aber eigentlich nur zum Schein lag. Seinen PC nutzte er nur zum Surfen, doch selbst das war langweilig geworden, nachdem ihnen quasi vorgeschrieben worden war, welche Websites sie besuchen durften. Und da er jetzt mit Drogen zu tun hatte und nicht mehr mit Sittlichkeitsvergehen, wäre er schnell in Erklärungsnot geraten. Kommissar Berntsen balancierte die bis zum Rand gefüllte Kaffeetasse über die Türschwelle zu seinem Schreibtisch. Sorgsam achtete er darauf, keinen Klecks auf der Broschüre über den neuen Audi Q5 zu hinterlassen. 211 PS . Ein SUV , aber trotzdem ein richtiges Verbrecherauto. Damit fuhr man den alten Volvo V70 der Polizei mit Leichtigkeit davon. Außerdem bewies dieses Auto, dass man es zu etwas gebracht hatte. Dann würde endlich auch die Frau in dem neuen Haus in Høyenhall erkennen, dass er kein Niemand mehr war.
Den Status quo wahren. Darauf kam es jetzt an. Die Ernte sichern, die wir bis jetzt eingefahren haben, wie Mikael es bei der großen Dienstbesprechung am Montag genannt hatte. Im Klartext hieß das, dass sie dafür sorgen mussten, dass keine neuen Akteure auf der Bildfläche erschienen. »Natürlich wäre es wünschenswert, noch weniger Drogen auf den Straßen zu haben. Aber wenn man in so kurzer Zeit so viel erreicht hat wie wir, besteht immer die Gefahr eines Rückschlags. Denken Sie an Hitler und Moskau. Es geht darum, den Mund nicht zu voll zu nehmen.«
Kommissar Berntsen wusste in etwa, was Bellman damit meinte. Nicht enden wollende Tage und Füße auf den Tisch.
Manchmal sehnte er sich wirklich zurück zu seiner Arbeit bei der Kripos. Mord war etwas anderes als Drogen, da spielte die Politik keine Rolle, da ging es einfach nur darum, die Fälle aufzuklären. Punkt, fertig, aus. Aber Mikael Bellman hatte persönlich darauf bestanden, dass er aus der Zentrale in Bryn hierher ins Präsidium kam. Er brauchte in seinem neuen, noch
Weitere Kostenlose Bücher